Mit drei Klanginstallationen und fünf Konzerten bewegt sich das Künstlerprogramm des DAAD in die Welt der Zwischentöne: zwischen die Stufen der chromatischen Tonskala, zwischen Komposition und Improvisation, aber auch zwischen verschiedene Genres der Kunst.
Was tun, wenn eine Klanginstallation vom Luftzug in Gang gesetzt werden soll, bei der Eröffnung jedoch Windstille herrscht? Der Wahl-Brasilianer Walter Smetak war wie Harry Partch nicht nur Instrumenten-Erfinder, sondern auch einer der Pioniere mikrotonaler Musik. Auf sechs Gitarren zog er jeweils nur eine der sechs Gitarrensaiten sechsmal auf, im Abstand von Zwölfteltönen gestimmt. Diese wollte der Komponist, der 1983 Gast des Berliner Künstlerprogramms war, auch in einer Klanginstallation mit 36 Gitarren einsetzen, vom Wind in Schwingungen versetzt. Nun hat Gustavo Alfaix seine Idee in der Berliner Sophienkirche umgesetzt. Die Gitarren im Dachboden des geschichtsträchtigen Kirchenbaus hängen zu sehen, war zweifellos ein Erlebnis. Doch ohne Ventilatoren wäre zur Eröffnung, bei schwülem Wetter und absoluter Windstille, überhaupt nichts zu hören gewesen.
In der Installation der irischen Stipendiatin Karen Powers in der Kapelle der Versöhnung am ehemaligen Mauerstreifen traten bis zu fünfmal am Tag auch Instrumentalsolisten auf. Da allerdings vorher nicht angekündigt war wann, konnte es einem passieren, dass der Auftritt gerade vorbei war und der nächste erst anderthalb Stunden später stattfand. Powers hat im Bunker unter der S- und U-Bahn-Station Gesundbrunnen Aufnahmen angefertigt, die nun sowohl in der Lehm-Rotunde als auch im Umgang zu hören waren. Dort traten vor der Kulisse einer Fotoausstellung über Grubenarbeiter im Donbass auch die Solisten auf. Die verstärkten Geräusche aus dem Lautsprecher, am Aufnahmeort unterhalb der Hörschwelle, klangen nach U-Bahn. Dazu spielte etwa Johnny Chang auf der Viola eine Komposition von Powers, die auf kleinen Abweichungen von einem lang gezogenen Ton beruhte.
Das erste Konzert, nun im Schiff der Sophienkirche, gab Quattuor Diotima: Das Streichquartett trägt seinen Namen in Anlehnung an Luigi Nonos „Fragmente – Stille, An Diotima“, das nach Werken von Dmitri Kourliandski, Stefano Gervasoni und Boris Filanofsky – letzteres eine Uraufführung – in der zweiten Programhälfte erklang. Stille, kaum hörbare, gehauchte Geräusche, subtile klangliche Schattierungen und Tonhöhen-Verschiebungen kennzeichneten denn auch alle drei neueren Werke: eine Herausforderung, die das Quartett souverän bewältigte, aber ein etwas ermüdender Hörgenuss. Spektakulärer war Filanofskys Performance am nächsten Tag in der Ruine der von Karl Friedrich Schinkel erbauten St. Elisabeth-Kirche. Mit Hunderten von Lochstreifen fütterte der Komponist über eine Stunde hinweg eine von Arno Fabre entwickelte und per Fahrrad angetriebene Maschinerie, die ein Kontinuum flirrender, schwirrender, spieluhrartiger Klänge erzeugte: Sport und Musik, ein dadaistisches Spektakel, das trotz gelegentlicher Unterbrechungen auf Handzeichen des Komponisten und zugeschalteter Endlos-Lochstreifen tieferer Frequenz eine leichte Betäubung hinterließ.
Grenzgänge zur Poesie und bildenden Kunst vollzog eine Klanginstallation John Burnside. Ein Gedicht über Bienen, vorgetragen original und in deutscher Übersetzung, wechselte mit dem Gebrumm der Insekten. Dazu war ein Florilegium der Künstlerin Amy Shelton ausgestellt. Reich gedeckt war die Tafel in der wunderschönen Villa Elisabeth für Francesco Filideis „Opera (forse)“: mit Weinflaschen, Gläsern und weiteren Utensilien der Klangerzeugung. Nur leider war der Hornist des Pariser Ensembles 2e2m, erkrankt, sodass dies reines Bühnenbild blieb. Es erklang dann zuerst Jean-Luc Hervés Violinsolo „Horizons inclinés (Ciaconna)“ aus zumeist aufsteigend gleitenden Tönen, in dessen zweiter Hälfte der Violinist Pascal Roubault die Bühne verlässt und die Musik wie von Geisterhand weiterspielt. Fabien Lévys Quintett mit dem langen arabischen Titel „Risāla fî-l-hob wa fî-lm al-handasa“ spielt mit den Satz-Titeln Muqarnas und Murassa auf Ornamente an: Wie Stalaktitengewölbe ziseliert der Komponist die Feinheiten des Klangs. Am Ende schossen die beiden aufgeführten Werke Filideis den Vogel ab: „Finito ogni gesto“ spielt mit einem Varieté von Klängen und endet mit dem wiederholten, aus jedem Konzert vertrauten Geräusch, das entsteht, wenn Musiker eilig die Noten umblättern. „Esercizio di pazzia“ (Übung in Verrücktheit) treibt dies auf die Spitze: Das Stück besteht nur aus dem Umblättern.
Höhepunkt des Festivals waren die beiden Konzerte des libanesischen Trompeters und Cartoonisten Mazen Kerbaj. Für den ersten Abend hatte er die zwei Überlebenden des Pionierensembles improvisierter Musik AMM eingeladen. Während Eddie Prévost vorwiegend mit dem Bogen über Beckenränder strich, teils durch Reibungen des Beckens auf großer und kleiner Trommel verstärkt, schlug John Tilbury auf dem Klavier überraschend sanfte Akkorde an. Nachdem Kerbaj sein eigenes A-Trio mit dem E-Gitarristen Sharif Sehnaoui und dem Kontrabassisten Raed Yasin vorgestellt hatte, spielten die beiden Ensembles zusammen. Dabei wichen Prévost und Tilbury nur wenig von dem ab, was sie zuvor schon im Duo praktiziert hatten, während Sehnaoui und Yassin, sei es aus Respekt vor den alten Herren oder um den Klang transparent zu halten, sehr zurückhaltend agierten. So blieb es Kerbaj vorbehalten, als Trompeter mit Schlauch und Saxophonmundstück, dann wieder ganz ohne Mundstück, schließlich mit anarchischen Geräuschattacken auf einem an die Trompete angeschlossenen Luftballon ganz im Mittelpunkt zu stehen.
Das zweite Konzert galt Kerbajs Projekt „Wormholes“. Während Sehnaoui und Tony Elieh mit E-Gitarre und Bassgitarre einen infernalischen Lärm erzeugten, aus dem später glasklare Klänge hervorstachen, ließ Kerbaj mit verschiedenen Pipetten, Federn, Zerstäuber und weiteren Geräten auf ebener Fläche schwarzweiße Formwelten entstehen. Mit dem Overhead-Projektor an die Wand gebeamt, schufen diese wie die Wurmlöcher der theoretischen Physik eine direkte Verbindung zur distanten Welt der Musik. „Wir sind“ steht plötzlich unter zwei angedeuteten Kopf-Formen. Nachdem Schädelformen aufgetaucht sind und sich wieder zersetzt haben, folgt „Die Toten“. Am Ende steht auf der Leinwand: „Wir sind die Toten von morgen.“ Als Aussage unbestreitbar, lässt der Satz doch auch die Perspektive des Künstlers aufscheinen, der in einem von Bürgerkrieg und israelischen Angriffen geprägten Land aufgewachsen ist.