Eigentlich nur gute Nachrichten, die ein verregneter Oktoberanfang in Sachen Kunst in Köln geliefert hat. Zu erleben ein Veranstalter, der herzeigte, was er hat, der sich darüber im Klaren war, dass, wo „Festkonzert“ draufsteht, auch ein solches drin sein muss. So traten sie denn auf, in selten konzentrierter Form: WDR Sinfonieorchester, WDR Rundfunkchor mit den Gästen Pierre-Laurent Aimard für den klavieristischen Solopart und Enno Poppe als Dirigenten-Komponist am Pult. Letzteres haargenau die Konstellation, auf die man es auch seinerzeit abgesehen hatte, am 8. Oktober 1951, vor 70 Jahren als Igor Strawinsky das allererste „Musik der Zeit“-Konzert künstlerisch verantwortete.
Der Meister hatte die revidierte Fassung seiner „Symphonies d’instruments à vent“ mitgebracht, dirigierte sie in deutscher Erstaufführung, womit nebenbei Rang, Höhe der neu an den Start gegangenen Konzertreihe bestimmt waren. Mit ihm, dem Namen Strawinsky, mit der bedeutendsten Künstlerpersönlichkeit der Zeit den Kunstanspruch beglaubigen, den Bildungsauftrag des jungen Senders einlösen – ein Ziel, wofür Herbert Eimert stand, der komponierende Redakteur und Rundfunkjournalist der ersten Stunde, der Kopf der Dramaturgie, der Programmatik einer „Musik der Zeit“, die nichts von dieser Aktualität eingebüßt hat. Wie sollte es auch? Was sollte daran überholt sein, dem neuen Werk einen Ort, eine Gelegenheit zu geben, seine Kraft in Nachbarschaft, in werdender Tradition neuer Musik unter Beweis zu stellen?
Sofern die WDR-Konzertreihe „Musik der Zeit“ zum 70. Jahr ihres Bestehens überhaupt eines Kompliments bedürfte, könnte man einen Gedanken Adornos zu den musikalischen Formen ins Spiel bringen. Irgendwo in der „Philosophie der neuen Musik“ spricht Adorno davon, dass es die Formen sind, in denen „überlebt was sonst vergessen ist“. Formen, davon geht Adorno aus, sind nichts Formelles. Nur um den Preis des Bedeutungsverlusts kann man sie ignorieren, beiseite legen, durch anderes ersetzen. In Formen, sagt Adorno, sedimentieren, kristallisieren sich Inhalte, sind also aufbewahrt, können aufgerufen werden. Form bewahrt, was unausgestanden, noch unausgeschöpft ist. Um nichts anderes geht es auch in diesem Fall. Als Konzertreihe ist „Musik der Zeit“ ja mehr als nur eine schöne Überschrift, ist vielmehr die Form, in der sich die Aneignung der Musik der Gegenwart vollzieht, indem sie Erinnern mit Erneuern kombiniert, Grund und Herkunft reflektiert, im gleichen Moment ins Neue hinein transzendiert.
Vor 70 Jahren
Was sich in den Nachkriegsjahren der zeitgenössischen Produktion verpflichtet fühlte, hieß „musica viva“ in München, „die reihe“ in Wien, hieß „Musik der Zeit“ in Köln. Auch letztere ist geblieben, heißt noch heute so. Zur Jubiläumsveranstaltung genehmigte man sich Formaterweiterungen. Manos Tsangaris bespielte installativ den durch Heinrich Böll berühmt gewordenen Funkhaus-Pater Noster, Brigitta Muntendorf wollte ihr „Theater des Nachhalls“ als „Drehtür zur Gegenwart“ verstanden wissen. Und auch die touristisch aufgezogenen Stationenkonzerte unter dem freilich etwas albernen Titel „Rundlauf“ verschränkten wie die „Nachtmusik“ (ein Radioformat der ersten Stunde) Kölner Klassiker – Zimmermann, Kagel, Stockhausen – mit Stücken von Peter Ablinger, Carola Bauckholt, Matthias Kaul, Dariya Maminova. Nicht anders das Hauptkonzert. Fokussiert, durchaus festlich, wie da binnen 70 Minuten durch 70 Jahre neue Musik in Köln musiziert wurde. „Initiale“ für sieben Blechblasinstrumente von Boulez, „Syrmos“ für 18 Streichinstrumente vom aktuellen „Musik der Zeit“-Jubilar Iannis Xenakis, danach die Uraufführungen von „Se da contra las piedras la libertad…“ für Klavier und Bläser von Klaus Ospald, ein Hörvergnügen, endlich ein archaisierendes mikropolyphones „recordare“ für Chor und Orchester von Juste Janulyte. Man ging gestärkt.