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Vom Konzert- zum Kultraum: Carl Orffs „Prometheus“ bei der Ruhrtriennale. Foto: Paul Leclaire
Vom Konzert- zum Kultraum: Carl Orffs „Prometheus“ bei der Ruhrtriennale. Foto: Paul Leclaire
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Die fröhliche Theaterwissenschaft des Heiner Goebbels

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„No education“ – die Ruhrtriennale als Teilchenbeschleuniger ohne Vermittlungsabsicht
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Bochum, Duisburg, Essen im September – wahrscheinlich sind wir ganz nah bei Heiner Goebbels, wenn wir uns seine (erste) Ruhrtriennale als Ring­beschleuniger vorstellen. Man kennt diese Technik, die mit Riesen­aufwand Riesenrennbahnen für Elementar­teilchen in der Erde versenkt – möglichst fern von störenden Umwelt­einflüssen. Ist alles am Platz, treten erwar­tungsfroh gestimmte Ingenieure auf den Plan, die den Schalter umlegen, um ihre Teilchen (oder was sie dafür halten) auf Kollisionskurs zu schicken. Und dann – Peng!

So ungefähr funktioniert das auch bei der Ruhrtriennale und ihren Spiel­stätten, den aufgelassenen Industriebrachen und a.D.-gestellten Werkhallen eines mitten im „Strukturwandel“ stehenden Ruhrgebiets. Die Parallelen sind sinnfällig. Monumente wie die Jahrhunderthalle in Bochum oder die Kraftzentrale in Duisburg halten Dis­tanz zum urbanen Raum. Ganz wichtig für Heiner Goebbels. Nichts fürchtet der künstlerische Leiter der Ruhrtriennale nämlich mehr als die 

magnetischen Felder des Stadt- und Reper­toiretheaters mit ihrem Ensemblesystem, ihren Betriebs- und Spielplanvorgaben. Denn wie soll, wie kann sie unter solchen Voraussetzungen überhaupt möglich werden, diese, so Goebbels, „Begegnung mit etwas, das wir noch nicht kennen“? 

Das Auge hört mit

Was natürlich auch seine Vorgänger im Amt umgetrieben hat. Nur, dass diese ihren Ehrgeiz noch darein gelegt hatten, die Highlights des Spielplans zu übertrumpfen: mit dem Pfund der ungewöhn­lichen Spielorte wuchern und (kraft ungewöhnlich opulenter Spielplanetats) auch ein wenig zaubern. 

Man denke nur an die fahrbaren Zuschauer- und Orchestertribünen bei Flimms „Soldaten“, bei Deckers „Moses und Aron“. Heiner Goebbels hat diesem Überbietungs­wettbewerb entsagt. Im Prinzip jedenfalls. Denn immerhin: Die denkwürdige Materialschlacht zu Teil eins der Cage-Oper „Europeras“ erinnerte haargenau daran. Andererseits: Was tun, wenn Orchester, Sänger, Licht, Kostüme, Bühne, wenn alles in dieser Opern-Zitat-Maschine unabhängig voneinander ist? Antwort: Daran denken, dass Musik nicht nur das ist, was man hört! 

Hat Goebbels gemacht und eine choreografierte Revue historischer Opernkulissen aus der Taufe gehoben respektive heben lassen. Eine Armada aus in schwarze Overalls gehüllten Präzisions­arbeitern spult für ihn ein 90-Minuten-Akkordprogramm ab. Toll! Wie das Schiff auf die Bühne fährt, seinen Top ausklappt, wie ihm das Meer hinterhergetragen wird und ihm die Wellen gemacht werden. Ausstattung? Kaum. Die Kulisse hat sich hier verselbständigt und ist als bewegte Installationskunst in die Theaterpraxis integriert. Ebenso spektakulär wie die solitäre Tiefen­öffnung der Jahrhunderthalle. Und doch auch ein wenig konventionell. Überhaupt wirkte der große Bilderreigen wie eine nachträgliche Liebes­erklärung an die von Cage eigentlich beendete europäische Oper. Nur eben, dass alles andere seinem Schicksal überlassen ward. Was da gesungen, was da gespielt wurde, versank im Nichts und Nirgendwo dieses Schlundes von Hallenmonstrum. Der Galimathias perfekt. 

Was draußen bleiben muss

So fiel es schon schwer zu glauben, dass ausgerechnet solche Cage-Klotzerei einlösen sollte, was sich Goebbels mit seinem „erweiterten Theaterbegriff“ vorgenommen hatte. Weshalb er denn auch liebend gern Ja gesagt hat, als man ihm die Triennale-Krone angetragen hatte. Und damit ein „Produktionsfestival, das es erlaubt, Werke unabhängig vom Repertoire- und Ensemble­system zu entwickeln“. Die Folge freilich: Was auch nur irgend nach Kanon, nach Standard, nach Betrieb und zerbrochenem Bildungs-Krug roch, musste leider draußen bleiben. 

Orffs „Prometheus“ von 1968 konnte nur deshalb Gnade finden, weil es dieses Musiktheater nicht ins besagte Repertoire geschafft hat und weil man nicht behaupten kann, dass Stück und Komponist in der Szene, bei den Avant­gardisten jener Jahre besonders gut angeschrieben gewesen wären. Womit solcher „Prometheus“ fit war für den Ring­beschleu­niger mit Co-Ingenieur Lemi Ponifasio, der im Orff’schen Ausgangs-Setting möglicherweise den mythischen Traditions­raum seiner neuseelän­dischen Heimat wiedererkannt hat: ein hermeti­sches (hier komplett auf Altgriechisch herzudekla­mierendes) Textgebirge, eine von Streicher-Zivilität befreite Dröhnmusik (die den Konzert- zum Kultraum umdefiniert) und eine Geschichte aus Verrat, Strafe, blutigem Opfer. Was Ponifasio alles so gelassen und sich nicht weiter geschert hat um die Durch­arbei­tung dieses erratischen Material­klumpens. Stattdessen ward die ganze Personnage ins Nachtdunkel versetzt, in jene mythische Region und Zeit, in der alle Katzen grau sind. Überwölbt von einer Choreografie, die schamanistisches Ritual herauf­beschwört. Da schleicht der Mensch in Tiergestalt über die Bühne, da werden die (bewundernswerten) Sängerinnen von ChorWerk Ruhr zum auf- und abpromenie­renden Kult­personal herabgestuft. Und selbst Prometheus-Hauptdarsteller Wolfgang Newerla wird zur Sprech- und Sing-Skulptur. Hier sitzt du und rührst dich nicht.

Mehr als nur Geschichten

Womit Ponifasio den Geduldsfaden des theatersinnigen Triennale-Publikums schon arg strapaziert hat, vom Standpunkt der Goebbels’schen Theater­konzeption aber durchaus auf Kurs war. Denn, so die unausgesprochene Logik, „Begegnung mit etwas, das wir noch nicht kennen“ geht nur unter Inkaufnahme von Verunsicherung, an deren Ende, so Goebbels, man nicht mehr wissen soll, „wer Sänger und wer Tänzer ist“. „Wenn es überhaupt ein Thema gibt bei unserem Programm“, so der Festivalleiter, „dann ist es der Zusammenstoß mehrerer Kunst­formen, der vom Tanz viel sensibler als von anderen Sparten wahrge­nommen wird. Theater kann viel mehr, als nur Geschichten zu erzählen.“ Womit das Stichwort gefallen ist.

Das Problem dabei: Wie ist nach erfolgtem „Zusammenstoß“ der entstandene Teilchenstaub zu verstehen? Auch diese Verunsicherung scheint Heiner Goebbels als normale Reaktion antizipiert zu haben. Anders als seine immer etwas offiziös wirkenden Vorgänger konnte man ihn, stets brav in der Warteschlange, wie einen neugierigen Besucher seines eigenen Festivals erleben. Augenscheinlich gespannt auch darauf, wie sie so ankommt, seine fröhliche Theaterwissenschaft mit ihrem unverhohlenen anarchistischen Kern. 

Letzteren haben das kritische Publikum respektive die Kritiker im Publikum zuerst daran bemerkt, dass Goebbels die Möglichkeit von Deutungshoheit rundweg bestritten hat. „Begrüßen Sie mit uns die Jurymitglieder der Children’s Choice Awards!“, hieß es regelmäßig zu Beginn der Vorstellungen. Wie einst die Fürsten und Könige zogen nach dieser Durchsage die Revier-Kids ein, um ganz prominent in der ers-ten Reihe Platz zu nehmen. Wenn also schon ein Theaterintendant der Meinung ist, dass ein „internationales Fest der Künste“ (Ruhrtriennale Selbstbezeichnung) von Kindern beurteilt werden kann – was ist denn dann noch der Status der Kritik? 

Was gebraucht wird 

Ein Schienbeintritt, dem gleich ein zweiter folgte. Die grundsätzliche Skepsis nämlich gegenüber „Geschichten“, Mitteilungen, Botschaften macht jegliche „Vermittlungs“-Arbeiter und -Apostel mit einem Schlag arbeitslos. The best education? No education at all! Für diesen kantigen, mit Gegenentwürfen freilich nicht knausernden, an Cage geschulten Theater-Anarchismus und seinem Zweifel an Sinn-Vermittlung, durfte Goebbels noch während des laufenden Festivals den International Ibsen Award 2012 entgegennehmen. Der Ritterschlag also zu einem Zeitpunkt, als er selbst mit seiner Ruhrtriennale in der kritischen Öffentlichkeit stand. Keine schlechte Dramaturgie auch dies.  

Was im Ganzen freilich nicht bedeutete, dass gleich alles gegen den Strich gebürstet ward. So gab es auch weiterhin den Versuch, herkömmliche Konzertformate auf die Gegebenheiten entkernter Industrieräume zu projizieren. Groß war die Erwartung etwa an Kent Nagano und ans Mahler Chamber Orchestra, das neue Orchesterlieder von Georg Friedrich Haas und Toshio Hosokawa nach Charles Ives’ „114 Songs“ aus der Taufe heben sollte. Erwartungen, die in der Bochumer Jahrhunderthalle nur ansatzweise in Erfüllung gingen. Zu groß, zu ungelöst die problematische Akustik dieser eisernen Riesenkathedrale. 

Und auch die Idee, die einmal so viel Begeisterung ausgelöst hat, aus den Konzerthäusern aus- und in neue Räume einzuziehen, scheint ihre Faszinationskraft zu verlieren. Woher unser Optimismus, dass die für den Maschinenbau ausgelegten Akustiken der Kraftzentralen, der Jahrhunderthallen auch für Haas und Hosokawa taugen? Denn: Worum geht es, wenn nicht darum, Räume (ob „erweitert“ oder nicht) zu kreieren, zu etablieren, die die Intimität von Orchesterliedern, von Liedgesang bewahren und zugleich bis in die letzte Reihe transportieren? Wofür man ja mal das Konzerthaus erfunden hat. 

Will sagen, es bedarf schon des überzeugenden künstleri­schen Ergebnisses, um die magischen Summen, die in die magischen Spielorte dieses „Produktionsfestivals“ fließen, zu begründen.  

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