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Neue Vocalsolisten. Foto: © Martin Sigmund
Neue Vocalsolisten. Foto: © Martin Sigmund
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Die hohe Kunst des Understatement: Südseite nachts mit den Neuen Vocalsolisten

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Ein paar Nachzügler kommen noch später, denn die „Südseite nachts“ bei Musik der Jahrhunderte am Stuttgarter Theaterhaus mit den Neuen Vocalsolisten hat versuchsweise erstmals schon um 19 Uhr begonnen. Ein gut gelaunter Andreas Fischer, der Bass, gibt eine kleine Einführung, und überhaupt: Wer behauptet, neue Musik sei ernste Musik, muss nach diesem Abend zu urteilen etwas falsch verstanden haben.

Die Präludien kommen am Schluss, die Etüden zu Diabelli von Michael Pelzer, mit denen das Programm beginnt, haben weder etwas mit dem Komponisten Anton Diabelli, noch mit Beethovens Diabelli-Variationen zu tun. Diabelli ist ein Zauberer in der gleichnamigen Erzählung des Schweizer Schriftstellers Hermann Burger. Pelzers Etüdenbuch besteht zwar nicht gerade aus Zaubertricks, aber, wie Fischer einleitend erläutert: etwas seltsam geht es schon zu. Während die drei männlichen Stimmen rechts so klingen, als ob ihre Batterieladung so langsam aufgebraucht sei, geht es bei den Frauenstimmen links umso munterer zu. So lässt sich gar nicht richtig entscheiden, ob es nun langsamer oder schneller wird. Später dreht sich das Verhältnis um. Bass und Alt haben Solopartien. Schließlich werden die vier hohen Stimmen immer schneller, während bei Bass und Bariton, zuerst sehr beweglich, wieder immer mehr der Druck nachlässt.

Oleg Krokhalev hat für seine Komposition „sirens“ die Vocalsolisten mit Diktiergeräten ausgestattet. Angelehnt an eine Kneipenszene aus James Joyces „Ulysses“ dringen Gesprächsfetzen ans Ohr. Die Aufzeichnung verdoppelt die Zahl der Stimmen und bringt zugleich mit ihrer beschränkten Klangqualität eine zweite Ebene ins Spiel. Was als Angriff auf die hohen Ansprüche der konzertanten Musik aufgefasst werden könnte, ist genau so gemeint: Die schlichten, billigen Geräte unterlaufen jedes Pathos, ebenso wie die gehauchten Laute und Konsonanten allen Versuchen, sich durch Vibrato und Stimmgewalt in Szene zu setzen, den Boden entziehen.

Lang angehaltene sechsstimmige Vielklänge, unterbrochen von der Hoquetus-artig überschlagenen Stimme des Tenors: Stefano Gervasonis dreizehn Distichen „In Dir“ nach Texten von Angelus Silesius lassen von fern Vokaltechniken der Alten Musik anklingen. Allerdings ist dieses nur eine von vielen Versuchsanordnungen. In anderen Teilen halten sich die Sänger einmal den Mund zu oder die drei Sängerinnen drehen ihre Notenständer herum und singen an die Wand. Auf einer Zwölftonreihe aufgebaut, sind manche der Distichen sehr kurz. Dann wieder, ungefähr in der Mitte, wird es für eine ganze Zeitlang sehr lebendig. Mag der Text beim Anhören kaum zu verstehen sein, nachlesend lässt er sich gut auf die Musik beziehen: „In dir muss Reichtum sein: was du nicht in dir hast, wär’s auch die ganze Welt, ist dir nur eine Last.“

Abwechslung belebt das Programm: Rytis Mažulis‘ „Cum essem parvulis“ benötigt wieder technische Hilfestellung. Allerdings sind keine aufgezeichneten Töne zu hören, jedenfalls nicht für das Publikum: Nur die Sängerinnen und Sänger haben einen In-Ear-Ohrhörer. Was sie hören, befähigt sie, die äußerst feinen mikrotonal differenzierten Tonstufen und die komplex verschränkten Rhythmen zu treffen. Konzentriert auf die Partitur und die Töne in ihrem Ohr, hören sie nicht das klangliche Resultat: Der Zusammenklang aller Stimmen bleibt dem Publikum vorbehalten. Ein spezieller Minimalismus: aufgebaut nicht auf Dur-Dreiklängen, sondern auf minimalen Tonhöhendifferenzen.

Mischa Käser führt musikalisch fort, was die Dadaisten Hugo Ball und Kurt Schwitters mit dem Lautgedicht begonnen haben. Er ist selbst Stimmkünstler, und in seinen Präludien, Buch 4, ein Kompositionsauftrag der Vocalsolisten und im März in Genf uraufgeführt, scheinen diese in fremden Zungen aufeinander einzureden. Bis sich plötzlich aus dem Gewirr der Laute doch Worte und Sätze der deutschen Sprache herausschälen; allerdings, was gerade noch ein ganzer Satz war, wird schnell schon wieder durcheinandergewirbelt, die Worte vertauscht, eine spielerische Prozedur. Einmal werden die Sängerinnen und Sänger richtig laut. Die plötzliche Präsenz steigert die Aufmerksamkeit, sorgt für Dramatik, sie macht aber auch bewusst, wie sehr fast alles an diesem Abend fein differenziert und wenig auf Show-Effekte aus war. Dick aufgetragen? Ganz sicher nicht. Mit ihrer Artistik zelebrieren die Neuen Vocalsolisten an diesem Abend die hohe Kunst, sich selbst nicht ganz so ernst zu nehmen.

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