In der inneren Emigration entstand in den Jahren 1934 bis 1937 die Oper „Der Traum ein Leben“ des verfemten Komponisten Walter Braunfels. Anlässlich der späten szenischen Uraufführung, 2001 in Regensburg, hatte Juan Martin Koch in der nmz prognostiziert, „dass hier ein wichtiges Stück Musiktheater des 20. Jahrhunderts möglicherweise im 21. endlich angekommen ist und – weitere und weitergehende Regieanstrengungen vorausgesetzt – vor einer Renaissance stehen könnte“. Diese Anstrengungen hat nunmehr das Theater Bonn in besonders hohem Maße erfüllt.
Bruno Walter wollte diese Oper, die der Komponist selbst für „besonders gut gelungen“ hielt, in der Wiener Staatsoper zur Uraufführung bringen, aber durch den Anschluss Österreichs an das Dritte Reich wurde dies unmöglich, und auch nach dem Krieg diverse internationale Aufführungs-Projekte am gebotenen Aufwand.
Handlung
Das Libretto des Komponisten ist das geschickt verkürzte (und an einigen Stellen für den Gesang erweiterte) „dramatische Märchen nach Grillparzer“, aber die Handlung scheint arg verworren – was sich wohl auf die spezifische Traumlogik zurückführen lässt. Der junge Rustan strebt nach Helden- und Königtum und verlässt daher die Hütte seines Onkels Massud und dessen ihn liebevoll umsorgende Tochter Mirza. Der dunkelhäutige Sklave Zanga als Begleiter, verspricht Rustan die Verwirklichung seiner Wünsche – auf einem Weg, aufgebaut aus Lügen. Während in Mozarts „Zauberflöte“ jener, der sich unrechtmäßig als Retter vor der gefährlichen Schlange ausgibt, bestraft wird (Papageno erhält von den drei Damen ein Schloss vor den Mund), hat hier Rustan Erfolg mit seiner Behauptung, er sei der Retter des Königs von Samarkand, der im Schlund einer gefährlichen Schlange steckte, obgleich die Rettung das Werk eines unbekannten Fremden war. Rustan wird hoch geehrt und gewinnt die Bewunderung der Königstochter Gülnare. Aber die Lüge gebiert neue Lügen und Frevel stets neue Untaten: Rustan tötet den Fremden und wirft ihn in einen Fluss, doch die Leiche wird später angeschwemmt und die Todeswaffe verweist auf Rustan, der zu diesem Zeitpunkt bereits Gülnare geehelicht hat, als Mörder. Daher bringt er auch den König, der ihm auf der Spur ist, mit Hilfe eines Zaubertrankes um. Dennoch erlangt Rustan nicht die ersehnte Krone, da Gülnare bestenfalls zur Teilung der Königswürde bereit ist. Die verschiedenen Versuche eines stummen Verwandten des Fremden, Rustan zu überführen, vermag der Despot mit Gewalt abzuwenden; aber sterbend erlangt der Stumme seine Sprache zurück und benennt Rustan als Königsmörder. Außenpolitische Unruhen kommen Rustan zu Hilfe, und das Schlagen der Uhr lässt ihn hoffen, aus einem bösen Traum erwachen zu können. Doch der dauert zugespitzt noch fort, bis Rustan schließlich ernüchtert und reuevoll in sein altes Leben, in die Hütte seines Onkels zurückkehrt. Er schenkt dem Sklaven die Freiheit und verjagt dann den finsteren Berater, um sich schließlich mit Mirza zu vereinigen.
Originellerweise hat in Braunfels’ Oper der Onkel Massud auch die Partie des Königs von Samarkand zu gestalten und dessen Tochter Mirza auch die der Prinzessin Gülnare. So gesehen erweist sich das blutige Drama, welches viele Unschuldige zu Tode bringt und das Land mit Krieg überzieht, am Ende doch nur als ein häusliches Kammerspiel in üblen Zeitläuften.
Kunstmärchen
Der Bonner Dramaturg Andreas K. W. Meyer deutet Braunfels Oper’ als „ein Stück des zumindest moralischen Widerstands“, als „Beweggrund für einen zum öffentlichen Schweigen verdammten, noch kurz zuvor viel gespielten Komponisten“.
Gleichwohl verzichtet die Aufführung in Bonn bewusst auf jegliche naheliegenden politischen Bezüge zur Entstehungszeit der Partitur. Mit Mitteln des fantastischen Zaubertheaters betont sie das Kunstmärchen. So werden zwei zunächst am Boden lungernde Faune zu marmornen Sockelgestalten einer barocken Uhr, die inmitten der Rückseite einer fest gebauten Bühnenwand prangt.
Der unbespielt hässliche Raum einer Hinterbühne ist jene Hütte, die Mirza – gleich einer zweiten wartenden Solveig – mit Pinsel und Farbe monochrom zu einer wohnlicheren Behausung umzugestalten bemüht ist. In schwarzen Hosen ist Mirza ebenso unsere Zeitgenossin, wie ihr Vater Massud in seinem Sonntagsanzug. Und Zunga ist weder ein Schwarzer, noch ein Sklave, sondern ein über negative Zauberkräfte und Ratschläge verfügendes alter Ego der ebenfalls schwarz gewandeten Hauptperson Rustan.
Traumbühne des Lebens
Häufig treten die handelnden Personen aus dem Zuschauerraum auf, überqueren auf einem Steg den Orchestergraben und betreten dann die Traumbühne des Lebens. Doch angesichts der Praktikabilität (Instrumentalisten im Orchestergraben !) ist dieser Steg nicht auch die in der Handlung mehrfach besungene Brücke, von der Rustan den fremden Helfer in den Tod stürzt. Anstelle des Flusses wird ein gläsernes Aquarium auf die Bühne geschoben, in welchem der Fremde ertränkt wird.
Üppige, psychedelisch farbige Ausstattung
Die dominante, überbordend üppige, psychedelisch farbige Ausstattung von Hank Irwin Kittel bietet enorm viel fürs Auge. Faszinierende Bilder sind zu bestaunen, etwa wenn Rustan als Held auf einem feuerspeienden Nilpferd in Samarkand einreitet und Gülnare, auf einem Nashorn mit goldenen Hörnern stehend, an seine Seite gefahren wird, wenn Zanga auf dem Rücken kinetische Flügel wachsen oder wenn er einen blendenden Leuchtstab als gigantisches Schwert schwingt.
Wie Kundry in Stefan Herheims Bayreuther „Parsifal“-Inszenierung, steigt eine Alte mit ihren Zaubertränken aus dem Boden des Heldenbetts empor. Anschließend gibt sie die berühmte Zaubernummer fliegend rascher Raumwechsel durch Schranktüren zum Besten. (Aber im Gegensatz zur Magier-Nummer erklärt die Applausordnung diesen Trick: ein Double findet Einsatz). Außer veritablem Feuer aus Bodenplatten und in drei horizontalen Kästen überstrahlt eine Video-Feuer-Projektion die Szene, und häufig werden die wundersam eingelösten, im Libretto erwähnten szenischen Erfordernisse obendrein überlagert von bis zu drei gleichzeitigen Projektionen aus Schrift und Skribbles, als einem Markenzeichen des Regisseurs Jürgen R. Weber.
Der hatte bereits vor sechs Jahren, anlässlich seiner ersten Operninszenierung, bei Pfitzners Oper „Die Rose vom Liebesgarten“ in Chemnitz, den Kunstmythos in Fantasy-Film-Ästhetik zum Trivialmythos umgestaltet und mit projizierten Texten den Handlungsablauf kommentierend ironisch gebrochen.
So nun auch in Bonn mit kreierten Schlagwortbegriffen, wie „Regie-Theater-Vorfreude“, „Tenor-Wartezeit“, „Sopran-Sehn-Sucht“, „Verbindungs-Angst-Neurose“, „Erkennungs-Einflug-Schneise“, „Begattungs-Wunsch-Duett“, „Pausen-Brot-Zeit“, „Königs-Kinder-Hochzeit“, „Friedens-Stör-Fund“, „Trotz-Reaktonär“, „Geheime Schleich-Pfade“, „Konfrontation-Kurs-Chaos“, „Reise-Unlust“, „Tenor-Ahnung“, „Schweige-Rest“ oder „End-Spiel-Zeug“. Neben der Übertitelung der Gesangstexte soll diese Metaebene primär für Heiterkeit sorgen: mit Taschenlampe sucht Mirza in der leeren Hütte und erlebt dabei eine „Tenor-Ahnung“.
Buchstaben, die sich zu Schrift-Spielen addieren, gibt es auch auf nackten Männer- und Frauenbrüsten einer Gruppe von Terroristinnen. Wie die Kameraleute bei Frank Castorf, agieren die Bühnentechniker auf der Bonner Opernbühne sichtbar.
Die Raumlösungen der Ausstattung bilden eine Einheit mit den einfallsreich individuellen Kostümen von Kristopher Kempf, auch für jeden einzelnen Choristen. In einer Szene lassen beispielsweise sieben gelbe Gasballons den Schleier der Prinzessin schweben.
Potenziertes Happyend
Solisten, Chor und Statisterie führt Weber einfühlsam, kurzweilig und geschickt. Bisweilen bebildert er musikalische Strukturen choreographisch, etwa wenn Zanga in der musikalischen Diktion des Afrikaners einen Song zum Besten gibt, bei einem sequenzierten Duett und wenn vielbrüstige Mütter mit ihren Babies, Soldaten und Amazonen im Tanzschritt marschieren. Zanga nutzt sein Holzschwert als Golfschläger, Fanfaren und Trompetensignale werden sichtbar von Orchester-Musikern auf der Bühne geblasen.
Das Happyend wird potenziert: mit rosa Farbe malt Mirza die Hälfte eines Herzens an die Wand, Rustan ergänzt mit weniger zeichnerischem Geschick die fehlende Hälfte, und die beiden Faune am Rand der Uhr halten Händchen. Da auf dem sich schließenden Hauptvorhang bereits die Projektion „ Ende“ erscheint, geht das traumhaft schöne, leise Verklingen der Partitur bereits in Klatschen und Bravorufen unter.
Ungewöhnlicher Opernabend
Dass die Oper gegen ein solches Übermaß an optischen Reizen überhaupt bestehen kann, ist das Werk des Dirigenten Will Humburg, dem es gelingt, der farbenfreudig instrumentierten melodischen Substanz von Opus 51 unpathetisch zu ihrem Recht zu verhelfen. Mit dem erstklassigen Beethoven Orchester Bonn kehrt er die psychoanalytische Ebene der Oper hervor. Verdichtete Blechbläser-Einsätze konterkarieren schwebende Lyrismen der harfenarpeggierten Traumlandschaft, aufsteigende Ganztonleiter und Cluster, Fanfarenklänge und tonmalerisch forciertes Kriegsgetön mit gestopften Trompeten, sowie Melismenketten sorgen für effektvolle Kontraste. Die musikdramatische Fortentwicklung basiert bei Braunfels auf einer bisweilen plastischen, häufig jedoch subkultanen nachwagnerschen Leitmotivtechnik. Plastisch nachvollziehbar sind das sich windende Motiv der Angst und die Jagd nach dem Glück mit großen Sexten, wie auch ein identisches Motiv für Mord und Verhängnis. Die rhythmisch vorwärts treibenden, ihr Gesicht verändernden Triolen bleiben stets schleichend und böse. All das baut der Dirigent schlüssig auf, und das Beethoven Orchester Bonn entfaltet es prachtvoll. Doch anders als bei Humburgs Interpretation von Schrekers stilistisch mindestens ebenso vielfältiger Partitur des „Fernen Klang“ am selben Haus – vermag sich beim Rezipienten der Eindruck eines großen, die divergierenden Elemente in sich vereinenden Bogens am Ende der trotz zwei Pausen nur knapp dreistündigen Aufführung kaum einzustellen.
Dies mag auch an der Besetzung der führenden Partien liegen. Die Partie Mirza-Gülnare hat Braunfels für „Zwischenfach mit stark dramatischem Einschlag“ komponiert und sich für Rustan einen „spielbegabten jugendlichen Heldentenor“ gewünscht. Beides ist bei der – nach einer verkürzten Rundfunkversion in Frankfurt und der Regensburger szenischen Uraufführung – nunmehr erst dritten Produktion dieser Oper erneut nur unzureichend gegeben. Manuela Uhl überzeugt mit ihrer pretiösen Darstellung als Prinzessin, aber sie wird – aufgrund flacher Höhe – den lyrisch schwebenden Passagen gerechter als den hochdramatischen Aufschwüngen, obendrein scheint sie (vergleicht der Besucher den von ihr gesungenen Text mit jenem der Übertitelung, was mangelnde Textverständlichkeit bisweilen nötig macht) weniger textpräzise als ihr Partner Endrik Wottrich, dessen stimmliche Möglichkeiten die Erfordernisse der Heldentenor-Partie des Rustan bei Weitem übersteigt, was insbesondere bei der Arie des 2. Aktes eklatant wird.
Bis zum hohen H brillant in der Tongebung hingegen der Charaktertenor Graham Clarke, der als stummer Alter Kaleb den Bogen zu seiner unvergessenen Interpretation des Mime in Wagners „Ring“ schlägt. Auf der Plusseite der Aufführung auch Mark Morouse, der den Zanga mit Wotan-Stimme aufwertet, und mit tänzerischer und stimmlicher Akkuratesse Anjara I. Bartz in der von Braunfels hinzu erfundenen Rolle der Alten (die dramatisch an die Kupplerin in Schrekers „Der ferne Klang“ gemahnt, wie mit dem Text ihres Spinnerinnenliedes an Wagners „Der fliegende Holländer“). Ralf Broman als Massud agiert in der Traumwelt, durch das Wirken einer Statistin an seinem Rücken, mit vier Händen als ein sympathischer, aber etwas tumber König. Die häufig unsichtbaren und dann elektroakustisch verstärkten Chöre (Einstudierung: Volkmar Ulbrich) bleiben klanglich und in ihren szenischen Aktionen positiv im Gedächtnis. Der Gesang der Knaben ist in dieser Aufführung weiblichen Genien (Christina Kallergis und Nina Unden) anvertraut.
Das mit viel Kultur-Prominenz, internationalen Pressevertretern und zum Teil von weither angereisten Opernfreunden besetzte Premierenpublikum sparte nicht mit Zuspruch und dankte allen Beteiligten mit uneingeschränkt herzlichem Applaus für diesen ungewöhnlichen Opernabend.
- Weitere Vorstellungen: 6., 12. April, 7., 11. und 30. Mai 2014.
- Rundfunkübertragungen: Deutschland Radio Kultur am 5. April, WDR 3 am 22. Juni und SWR am 13. Juli 2014.