Ein Theaterabend, der uns kalt erwischt, der uns an ein Schuldenkonto erinnert, von dem wir bis dato noch nicht einmal wussten, dass wir sie hatten, diese Hypothek. Eine, die wir offenbar noch immer abstottern müssen: die Afrika-Politik der europäischen Kolonialmächte im Ersten Weltkrieg. Ein Hintergrund, eine Blutspur, die William Kentridge, renommierter südafrikanischer Zeichner, Filmemacher, Installationskünstler, in ein Stück verwandelt hat, weder um den Ereignissen den Prozess zu machen, noch den Reportage-Zeigefinger zu heben. Wie aber dann? – Sie bühnenwirksam machen mit Hilfe von Collage und Dekonstruktion, so Kentridge.
Tatsächlich sind es zentrale Ideen der europäischen Künste der Kriegs- und Vorkriegsjahre, die er dafür aufgreift, seinen Zwecken anverwandelt. Das Ergebnis heißt „The Head And The Load“, adaptiert vom ghanischen Sprichwort „The head and the load are a trouble for the neck“ / „Des Nackens Leid sind Kopf und Last“. Eine Theater-Produktion, die uns Kentridge als gelehrigen Gurnemanz-Schüler zeigt, insofern jener verstanden hat, dass aus Zeit Raum werden muss, dass das Nacheinander der Ereignisse in die Gleichzeitigkeit von Aktionen zu übersetzen ist – der entscheidende Kniff. Alles türmt sich, die Ebenen stapeln sich. Bereits das Libretto ein Zusammenschnitt zeitgenössischer Literaturen, darunter Frantz Fanon, der französische Psychiater, Philosoph, Tristan Tzara, der rumänische DADA-Mitbegründer, Wilfred Owen, der Textlieferant für Brittens „War Requiem“. Dazu kommen Überlagerungstechniken. Deren Quellen wiederum die Künste und der Traum. Beide lassen das Fernliegende, das Nicht-Zusammenhängende aufeinandertreffen. In diesem Sinn kompiliert Kentridge Sentenzen der Berliner Kongokonferenz mit Kurt Schwitters „Ursonate“, das Morse Alphabet mit Bruchstücken aus dem Swahili-Sprachführer für Kolonisatoren. Angewandtes DADA.
Eine Art Lasten-Tableau „The Head And The Load“
So rollt es vor uns ab, das Lasten-Tableau von „The Head And The Load“. Der Leidensweg Schwarzafrikas übersetzt in einen steten Bühnen-Prozessionsweg. Tänzer, Schauspieler in permanenter Bewegung, kreisend in Stampfetänzen, unterwegs auf rollenden Podesten, vor allem aber im unentwegten Auf- und Ab: 60 Meter hin, 60 Meter zurück. Zu einem epischen Stoff gehört eine epische Bühne wie sie der Bauchladen der Duisburger Kraftzentrale parat hält, womit die Ruhrtriennale wieder einmal ihr Pfund ausspielt: nämlich ein Ort zu sein für das Große in den Künsten, das sonst keinen Platz hat. Groß hier vor allem für das Tragisch-Große, das uns eigentlich schauern lassen müsste.
Quasi-barockes Panorama lebender Bilder
Nur, dass Kentridge selbst weiß Gott kein Kind von Traurigkeit ist. Sein Theater folgt dem Lustprinzip, ohne dass er dafür die Geschichte verkürzen, ihre Abgründe verharmlosen würde. Im Gegenteil. Eine gewaltige Videoprojektion spült sie uns in den Saal. Catherine Meyburgh, Janus Fouché, Žana Marović lassen Wochenschaubilder mit dem Bühnenbild verschmelzen, stapeln, pressen historische Zeit in den Theater-Raum, verdichten alles zu einem quasi-barocken Panorama lebender Bilder, die sich binnen neunzig Minuten vor uns aufbauen, Pirouetten schlagen, wieder zerbröseln. Dazu tritt mit Scherenschnitt und Schattenriss eine Klaviatur, auf der Kentridge schon immer gern wie virtuos zu spielen verstanden hat, wenn er hier die „loads“ der über die Bühne promenierenden, marschierenden, schleichenden „carriers“ sich im Rückraum zu gespenstischen Gebilden auswachsen lässt. Ganze Schiffe werden da bewegt. Im nächsten Moment kommen die spitzigen Helme dazwischen, die grotesken Kaiser-Adler, also die Fratzen der im Streit so wunderbar vereinten Kolonialherren aller Länder. Das prägt sich ein.
Eine Gratwanderung
Rums! klappen im nächsten Moment Verschläge auf, geben Musiker frei, die die Bühne bevölkern und sich um ein Klimperkasten-Klavier gruppieren. Ganz erstaunlich: Folkloristisch gewandet kommen sie daher, und geben sich doch alles andere als folkloristisch. Noch eine Gratwanderung. Gespielt und gesungen wird übrigens famos. Walzer von Fritz Keisler, „Je te veux“ von Satie, Fragmente aus den Avantgarden jener Jahre: Schönberg, Hindemith, Ravel, versetzt mit traditionellem afrikanischem Liedgut. Verantwortlich für die musikalische Handschrift sind uns wenig geläufige Namen. An erster Stelle zu nennen, insbesondere wegen der Originalkompositionen, der gebürtige Brite Philip Miller. Gemeinsam mit dem Südafrikaner Thuthuka Sibisi ergibt das ein Gespann, das außerordentlich geschickt zu Werke gegangen ist. Das Prinzip der Beiden durch und durch aristotelisch: Schrecken und Rührung stiften. Eine Mischung, die nicht nur in Duisburg funktioniert hat, sondern bereits an der Londoner Tate Modern im Rahmen von „14-18 NOW“. Später im Jahr wird dieses epische Theater auch im Thomson Arts Center in New York zu sehen sein. Ein internationales Projekt das sich die Welt als Spielort gewählt hat. La Grande Guerre, der Große Krieg als Vater auch dieser Theater-Dinge.
Übelriechender Bodensatz imperialistischer Machtpolitik mit Fernwirkung ins postkoloniale Bewusstsein
Ein Theater, das sich seiner Mittel bewusst ist, um darin immer wieder Blicke frei zu geben auf einen grotesken Hintergrund: Schwarzafrika zwangsverpflichtet als Waffenträger, als Lastenesel. Afrikaner verheizt in einem Krieg, mit dem kein einziger Afrikaner etwas zu tun hatte. Das Ganze auf Kriegsschauplätzen in Europa und in den Kolonien, so dass nicht selten Schwarze gegen Schwarze antraten, um (wie in ehemals kaiserdeutsch Tansania, Togo, Kamerun, Namibia) Territorien zu gewinnen für fremde Herren – in jedem Fall fremde Herren. Übelriechender Bodensatz imperialistischer Machtpolitik mit Fernwirkung ins postkoloniale Bewusstsein. Genaue Zahlen gibt es dafür übrigens nicht. Zwei Millionen dürfte realistisch sein, las man im Programmheft und schreckte gleich wieder auf als die tanzenden, schauspielernden, singenden, musizierenden Kentridge-Ensembles dieses düster verhangene Geschichtskapitel in einer Weise aufbereiteten und ausbreiteten, dass es das Publikum schier nicht auf seinen Sitzen halten wollte. Von der Papierform dachte man an Betroffenheit, an Nachdenklichkeit. Nichtsdergleichen. Am Ende die exstatische Ovation pur. Befremdend. Da ist ein Theaterabend, der uns mit der Nase darauf stößt, wie sehr wir noch immer im postkolonialen Schlamassel stecken – das Ruhrtriennale-Publikum liegt Kentridge zu Füßen bis zum Ausrasten. – Was ist da passiert?
Ein Rätsel
Ein Rätsel, das dieser Eröffnungsabend unter der ersten Ruhrtriennale-Intendanz von Stefanie Carp aufgeworfen hat – und für das er mit der Eröffnungsrede von Nikita Dhawan zum Thema „Hopes, Desires and Imagination in a Postcolonial World“ auch gleich ein Lösungsangebot parat hielt. Genial gemacht, muss man sagen, wie da auf einmal die Dramaturgin Stefanie Carp phönixaschemäßig aus dem zerfledderten Gewand der Intendantin Stefanie Carp hervortrat.
Letztere, bevor noch irgendein Vorhang hochgegangen war, hochgehen konnte, hatte sich mit jeder Pressemeldung, jedem Interview, jedem Kulturausschusstermin tatsächlich mehr an den Pranger manövriert. Ursächlich ihr undurchsichtiger Schlingerkurs in Sachen „BDS“, jener israelkritischen Boykottbewegung, die den Antizionismus auf ihre Fahnen geschrieben hat und nicht bemerkt oder nicht bemerken will wie man darin antisemitischen Mustern folgt: „Don't buy from Jews!“ Als hätte es nicht die Schilder der SA-Posten vor jüdischen Geschäften gegeben: „Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!“ Die Folge: Ministerinnenschelte, Parteienschelte, Verbandsschelte, Ministerpräsidentenabsage, Rücktrittsforderungen. Ein kommunikationstechnischer Supergau. Bad news, die partout nicht (man kann es drehen und wenden wie man will) in good news modulieren wollen. Ende offen. –
Ein dramaturgisch-theaterpolitisches Glanzstück
Nur, als es jetzt der Kunst galt, war dieselbe Stefanie Carp mit ihrem Doppelaufschlag Dhawan/Kentridge aus den Eisen gesprungen wie eine Entfesselungskünstlerin in ihren besten Jahren. Ein dramaturgisch-theaterpolitisches Glanzstück. Wobei die Referentin tatsächlich als Einspringerin fungierte für die ursprünglich vorgesehene alternative Nobelpreisträgerin Vandana Shiva. Egal. Glück muss auch eine Stefanie Carp haben!
Eröffnungsrede und Eröffnungsabend wie zwei Spiegel
Und so funktionierte es: Eröffnungsrede und Eröffnungsabend wie zwei Spiegel. Man musste nur hinsehen, hinhören, das eine mit dem anderen zusammenbringen und das Schönste, was einem passieren kann im Theater, konnte eintreten: Lichteinfall von oben. Nicht umsonst war im Vortrag der als Politikwissenschaftlerin angekündigten Nikita Dhawan viel von der europäischen Aufklärung die Rede – nur anders als wir es gewohnt sind.
Die europäische Aufklärung lieben
Hatte man sich einmal an den lustigen indischen Akzent ihres Vortrags-Englisch gewöhnt, folgte man dieser klugen Philosophin (die sie in Wahrheit ist) um so bereitwilliger als Dhawan über ein ganz berückendes Erkenntnismittel verfügt: die Umkehrung der Perspektive. Wenn sich Philosophen wie Jürgen Habermas über europäische Aufklärung in Kaffeehäusern verbreiten (es war die schönste Anekdote, die die Referentin zum Besten gab), kontert Dhawan mit der Gegenfrage: „Woher kommt der Kaffee?!“ Man sieht sie förmlich fallen, die Scheuklappen. Nikita Dhawan will die europäische Aufklärung nicht abschaffen. Im Gegenteil. Sie will, dass wir sie „lieben“, ernst nehmen also. Etwa Kants Gedanke von der bedingungslosen Gastfreundschaft, wovon Dhawan zur Kunst kam, zu Aristoteles, dem es in seiner Theaterphilosophie um „compassion“ um „Mitleid“ gegangen sei – was stimmt. Dhawan stellte Seneca dagegen: Emotionen sind manipulationsanfällig. Im Mitleiden, so ihre überraschende Schlussfolgerung, sind „wir“ noch immer in einer postkolonialen Situation mit den Opfern von sexueller und struktureller Gewalt vereint. – Auf einmal war er erkennbar, der Erfolg (und das Erfolgsrezept?) von Kentridges postkolonialem Theaterabend. Das Mitleid rührt uns, im Mitleiden wähnen wir uns mit den Opfern im selben Boot. Ein bedauerliches Missverständnis, meinte Nikita Dhawan.