Während der Corona-Lockdowns 2020 und 2021 wurde erstmalig über Streamings berichtet, um Konzerten und Festivals überhaupt noch eine Öffentlichkeit zu verschaffen. Nun liegt der Fokus wieder auf Live-Veranstaltungen. Audio- und Videostreams sind selten und werden nicht mehr besprochen, obwohl sie Menschen weltweit und womöglich in größerer Zahl erreichen als eine an Ort und Zeit gebundene Veranstaltung. Kulturradio WDR3 hat nun ein besonderes Programm der Reihe „Musik der Zeit“ zusätzlich zur Live-Übertragung im Radio wieder einmal als Video gestreamt.
Die Klassik wird zugrunde gegangen sein
Statt im gut besuchten Sendesaal des Kölner Funkhauses verfolgt man am Computer wechselnde Kameraeinstellungen zwischen Bühnentotale und Close-ups. Während der Konzertpause unterhält man sich nicht im Foyer, sondern beobachtet das Gespräch von Moderatorin Cornelia Bittmann mit Simon Steen-Andersen, dem Hauptkomponisten des Abends. Problematisch ist freilich die mediale Angleichung von live gespielten und elektronisch zugespielten Klängen, die unterschiedslos aus Lautsprechern kommen. Bei Luigi Nonos „… sofferte onde serene …“ spielt das insofern keine allzu große Rolle, weil der vor hundert Jahren geborene Venezianer hier die von Maurizio Pollini eingespielten und dann elektronisch transformierten Klavierklänge möglichst eng mit dem Live-Klavierpart verzahnt.
Als 1976 Nonos Stück entsteht, wird Steen-Andersen geboren. Sein 2014 bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführtes „Piano Concerto“ ist ebenfalls ein virtueller Dialog. Doch statt um Verschmelzung geht es hier um zeitliche, mediale, performative und klangliche Kontraste. Der Uraufführungsinterpret Nicolas Hodges spielte sowohl live auf einem Flügel als auch auf einem zerstörten, verstimmten, scheppernden Klavier, das mit ihm per Video projiziert wurde. Zuvor war dieses Instrument in einer Fabrikhalle aus acht Metern Höhe zu Fall gebracht und beim Aufschlag von einer hochauflösenden Kamera gefilmt worden. Der Pianist spielte dann mit seinem Video-Alter-Ego eine Art Doppelkonzert. Eine zweite Leinwand hinter dem Orchester zeigte zudem Filmausschnitte des Klaviers, wie es herabfällt, aufschlägt, zersplittert, durch Rücklauf wundersam wieder aufersteht, und schließlich im Takt des Orchesters auf und ab tanzt. Nun spielte erstmalig Rei Nakamura zusammen mit dem Video des inzwischen an Parkinson erkrankten Hodges.
Anschließend brachte die Pianistin mit dem SWR Experimentalstudio und WDR Sinfonieorchester unter Leitung von Michael Wendeberg Steen-Andersens „no Concerto“ zur Uraufführung. Das fehlende Präfix „Pia“-no im Titel impliziert einen ähnlich destruktiven Umgang mit dem Soloinstrument und eine Verneinung der Gattung Klavierkonzert. Tatsächlich werden diese Wiedergänger aus einer vorweggenommenen fernen Zukunft von Archäologen neu entdeckt und zu rekonstruieren versucht. Da Vergessen, Vernichten, Verlieren geschichtsmächtiger sind als Bewahren, Tradieren, Erinnern, ist diese retrofuturistische Perspektive erschreckend plausibel. Denn irgendwann gibt es das uns heute bekannte Konzertleben nur noch im Futur II: die Klassik wird zugrunde gegangen sein.
Niemand weiß dann mehr, was Musik, Orchester, Klavier und Konzert einmal waren. Doch einige Funkstücke humanoiden Ursprungs legen die Vermutung nahe, es könnte sich um Mittel der elektromagnetischen Speicherung akustischer Signale handeln. Im Labor der Zukunft wird „Artefakt 34B“ auf einer ebenfalls erhaltenen Tonbandmaschine abgespielt. Durch Geräusche und Tonhöhenschwankungen stark verbeult wird Beethovens G-Dur-Klavierkonzert hörbar, das man gerade aktuell im WDR-Sendesaal aufführt. Statt selbst Musik zu komponieren, verfremdet Steen-Andersen das Beethoven-Konzert elektronisch und gibt ihm durch die Rahmenerzählung einen neuen Kontext.
Die künftigen Datenforensiker können anhand seltsamen Objekts sogar Kontext, Ort und Herstellung der Aufnahme ermitteln. Schauspieler Sebastian Rudolph tastet sich dazu als Forscher mit Sauerstoffmaske über die mit Schwarzlicht kaum beleuchtete Bühne. Das Orchester der medialen Schattengeister spielt nach weißen Noten auf schwarzem Grund. Der Ethnologe erkennt mehrere Menschen, die Stöcke auf und ab bewegen und alle auf eine stumme Gestalt in der Mitte blicken. Daneben entdeckt er eine Reihe von Schaltern, die gedrückt werden und mit verschieden langen Drähten verbunden sind. Weiter hinten atmen andere vermutlich in irgendwelche Rohre. Diese prähistorische Kulturform wollte offenbar komplexe Folgen von Schallereignissen dokumentieren, im naiven Glauben, sie seien universell für alle Kulturen und Zeiten verständlich.
Durch Beschleunigen des Tonbands wird dumpfes Geraune schließlich als die Stimme der Moderatorin kenntlich, die gerade jene Live-Übertragung auf WDR3 ansagt, die man am Abend des 3. Februar 2024 wahlweise im Konzert oder Stream verfolgt. Fiktive Zukunft und reale Gegenwart fallen plötzlich zusammen. Im Saal wird es für einen Augenblick hell und man sieht die Aufführung von Beethovens viertem Klavierkonzert, dessen Aufnahme Jahrhunderte später keiner mehr verstehen wird. Der Rest ist Rauschen – und lebhafter Applaus des dereinst längst verstorbenen Kölner Publikums.
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