„Die Fledermaus“ hat immer Hochkonjunktur. Sogar zum 150. Jubiläumsjahr ihrer Uraufführung kommt sie häufiger in Deutschland als in ihrem Ursprungsland Österreich auf die Bühnen – in Halle, Nürnberg, Neustrelitz, Meiningen, an der Bayerischen Staatsoper München, an der Musikalischen Komödie Leipzig und-und-und... Die Online-Plattform Operabase listete am 8. März für Deutschland 24 „Fledermaus“-Städte, für Österreich sechs, für Frankreich ebenfalls sechs und für Spanien fünf. Kein schlechter Stand also im statistischen Ranking für die „komische Operette“ auf das Textbuch von Karl Haffner und des ebenfalls komponierenden Richard Genée, welches wiederum auf dem französischen Lustspiel „Le Réveillon“ von Henri Meilhac und Ludovic Halévy beruht. Unter dem Attribut „Königin der Operette“ wird „Die Fledermaus“ vom Publikum noch mehr geliebt als von Regisseuren und Dirigenten. Das gilt auch für die mehr oder weniger an Originaltext und -musik orientierten Verfilmungen des am 5. April 1874 im Theater an der Wien uraufgeführten Stücks.
Die Königin der Operette wird 150
Dem Spitzenreiter der ‚klassischen‘ Wiener Operetten-Ära bis 1900 und der mit Lehárs „Die lustige Witwe“ meistgespielten Operette muss man also nicht auf lahmende Sprünge helfen. Der Zuspruch für das Hauptwerk von Johann Strauß Sohn (1825 bis 1899) pendelt zwischen höchstem Verzücken beim Publikum und leichtem Verdruss theaterintern, wenn das Aufeinanderprallen von ambitionierter Neudeutung und deshalb geschmälerten Vergnügungen die bei „Fledermaus“ generell erwarteten Höchsteinnahmen zunichte macht. Auf der musikalischen Seite sind die Adelsprädikate für die Dirigier-Meilensteine zwischen Olymp, Gold, Silber und Bronze klar: Die Tonträger-Vermächtnisse von Carlos Kleiber, Herbert von Karajan, Nikolaus Harnoncourt und Willi Boskovsky ragen heraus aus einer schier unüberschaubaren Anzahl von Aufnahmen. Genannte erreichten das „Fledermaus“-Exzellenzniveau, weil sich die Großmeister der Ernsten Musik auch als Genies der sogenannten Leichten Muse erwiesen. Dieser Gegensatz ist heute überholt. Nicht nur in „Die Fledermaus“, sondern auch in anderen Operetten geht es um unerlässliche außermusikalische Fähigkeiten: Dialog-Kompetenz sowie das leichtgewichtige Flattern zwischen Verheißung, Gewähren, Hingabe und doppeldeutiger Pikanterie. Frech soll es sein – und am besten etwas queer.
Bürgerliches Lachtheater
Wie bei anderen überaus populären Werken scheint (fast) alles in und an der „Fledermaus“ abgegrast. Der Intrigen- und Handlungsanlass zur Rache des Dr. Falke, den sein bester Partykumpel stockbetrunken auf einer Parkbank liegenlässt, wird 2024 noch immer gerne während der Potpourri-Ouvertüre szenisch vorgeführt, welche heute wie eigens für die Wiener Neujahrskonzerte komponiert wirkt. Dass Falkes Heimweg im Fledermaus-Kostüm nicht nur persönlich peinlich, sondern auch berufsschädigend war, macht dessen Verstimmung und Racheimpuls verständlich. In Barrie Koskys Neuinszenierung an der Bayerischen Staatsoper München sind einige (Ballett-)Fledermäuse im Wortsinn ganz aus den auf der Bühne stehenden Häuschen-Fassaden. In Halle machte Patric Seibert aus der Ballgesellschaft Vampire.
Natürlich enthält „Die Fledermaus“ wunderbare Musik. Aber eine Musik von vergleichbarem Niveau hat bei einigen ihrer Geschwisterwerke nicht das allmähliche Abdriften in die Vergessenheit verhindert – zuletzt auffallend bei Suppés von einer raren bis heute fast ganz verschwundenen Kostbarkeit gewordenen „Boccaccio“. Dabei ist das Sujet von „Boccaccio“ über freie Liebe, literarischen Spott und erboste Bürger definitiv origineller als „Die Fledermaus“. Deren Handlung und ihre Figuren folgen mit wenigen Ausnahmen bekannten Mustern: Ehemann auf Abwegen, Verwechslungen und kurzfristige soziale Rollenwechsel. Noch immer ignorieren viele Inszenierungen, dass die Figuren nicht in einem metropolitanen Flair, sondern in einer Kleinstadt ihr Erlebnismanko mit Champagner und Csárdas kompensieren. Findige Dramaturgien verweisen gern auf den Wiener Börsenkrach mit Konkursen und Selbstmorden im Mai 1873. Dieser verdüstert etwas den Hintergrund der Eskapade Eisensteins, dessen maskierte Ballbeute sich beim Antritt zum achttägigen Gefängnisarrest als die eigene Ehefrau Rosalinde zu erkennen gibt.
Im 19. Jahrhundert geblieben
Andere Produktionsteams machen aus der Verkleidung von Eisensteins Hausangestellter Adele, die sich den Floh einer Theaterausbildung und Bühnenkarriere in den Kopf setzt, Sozialdramoletten mit Ernsthaftigkeitswolken. Oder die Regie wuchtet die im Original mit Ausnahme der Hosenrolle des Prinzen Orlofsky binäre Ballsause zur nonbinär aufgeputzten Swingerparty-Phantasie wie Kosky in München und Aron Stiel in aussagekräftigen Andeutungen am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken. An den Theatern im Westen Deutschlands blieb es bis zum Mauerfall 1989 allerdings meist nur beim Orakeln über die latente Bösartigkeit dieses „bürgerlichen Lachtheaters“ – zu dem „Die Fledermaus“ Volker Klotz in seinen Standardwerken zählte. Es werden Tänze auf dem Vulkan beschworen wie von Harry Kupfer oder in die Musik hinein interveniert wie von Thorleifur Örn Arnarsson am Theater Augsburg 2012 oder das Geschehen in die 1920er-Jahre verlegt wie von Josef E. Köpplinger, der im Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz die Vernichtungsspuren und Emotionsabstürze zwischen den Weltkriegen mitdenkt. Trotzdem: Noch immer spielt „Die Fledermaus“ in Theatern und Tourneeproduktionen oft tief im 19. Jahrhundert oder im unscharfen Niemandsland eines harmlosen Boulevardtheaters. Ausnahmen bestätigen die Regel. Der Assoziationsraum reicht von der Pelerine bis zum Vampir und vom Champagner bis Katzenjammer. Katharina Konradi dehnt im Nationaltheater München und auf arte seit 23. Dezember 2023 ihr Quietschen derart, dass es länger ist als Strauß´ Koloraturen für die von ihr verkörperte Hausangestellte Adele.
Unangefochten spitze
Viele dem nicht mehr ganz so jungen Musiktheater-Publikum vertraute Schlagsätze stehen nicht im originalen Textbuch, etwa der übergriffige Klaps ihres Dienstherren Eisenstein auf das Gesäß Adeles, die mit Quietschen oder Kreischen reagieren muss. Eisenstein darauf: „Es ist doch die Adele.“ Brigitte Fassbaender, die den Prinzen Orlofsky in drei Varianten von Otto Schenks legendärer Inszenierung im Nationaltheater München, in der Deutschen Oper Berlin und an der Wiener Staatsoper zwanzig Jahre lang gesungen hat, stellt im Rückblick als erfahrene Regisseurin fest: „Die tradierten ‚Fledermaus‘-Witze und -Sprüche wie ‚Herr Direktor, wir sind eingemauert.‘ sind einfach blöd. Aber das Publikum wartet darauf und deshalb finden sie sich in jeder neuen Inszenierung auf´s Neue. Dann wird wieder gelacht. Das geht mir auch so.“
Seit einigen Jahren kündigt sich allerdings eine neue Generation von Dialogzusätzen an: „Wer spült das denn ab?“ fragt Adele in Peter Lunds Neuinszenierung an der Musikalischen Komödie Leipzig und betrachtet dazu wie hypnotisiert die riesigen smaragdfarbenen und sündteuer aussehenden Stielkelche auf der Festtafel. In Harry Kupfers Inszenierung an der Komischen Oper Berlin zeigte Tatjana Korovina kurz nach der Wiedervereinigung dagegen, wie das Dienstmädchen Adele mit krampfhafter Verbissenheit die vorgegebene Identität als Künstlerin Olga für den sozialen Aufstieg zu nutzen versucht und ihren Körper mit fast verzweifelter Funktionalität dazu zwingt. Ein starkes Bild war das im bei Kupfer gar nicht fidelen Gefängnisakt.
Seit einigen Jahren erkennen Theaterschaffende in „Die Fledermaus“ auch wieder mehr Relevanz durch im Stück spiegelbare Diskurse. Diese haben kulturinterne und gesellschaftliche Ursachen. Als man um 2000 die Operette einmal mehr tot sagte, war das aktive Operetten-Repertoire auf ein Minimum geschrumpft. Unter diesen wenigen Perlen behauptete „Die Fledermaus“ desto unangefochtener ihren Spitzenplatz. Im Gegensatz dazu ist die Operette in der Spartenhoheit der Oper und manchmal des Schauspiels heute wieder pluralistischer, multipler und frecher. Das strahlt vor allem in Mitteleuropa auf das „Wie“ der jüngeren „Fledermaus“-Inszenierungen ab. Der Generation des empathischen, aber weite Teile der Operettenproduktion des 20. Jahrhunderts als qualitativ nachteilig betrachtenden Volker Klotz folgte mit den Gender-Studien die das Ansehen der Operette rehabilitierende Reihe an der Komischen Oper Berlin unter Barrie Kosky. Im „Operetten-Boulevard“ des Bayerischen Rundfunks werden heute mit dem „Operettenfrosch“ – benannt nach der kauzigen Figur aus der „Fledermaus“ – bevorzugt Produktionen ausgezeichnet, die das frech-frivole Potenzial der Kunstform akzentuieren, etwa „Der Fürst von Pappenheim“ am Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz. Trotz dieses Imagewandels behauptet „Die Fledermaus“ ihren Spitzenplatz erfolgreich gegen „Im Weißen Rössl“, „Blume von Hawaii“ und sogar Offenbachs „Pariser Leben“. „Sicher hält er mich für treulos, glaubt vielleicht, ich liebe einen anderen, und ich habe doch bloß geheiratet.“ Dieser Satz Rosalindes war früher oft gestrichen und wird heute wieder genüsslich ausgespielt. Marie Geistinger, Direktorin des Theaters an der Wien, hatte sich bei der Uraufführung für die gesanglich höchst anspruchsvolle Partie der Rosalinde entschieden und war damit die erste prominenten Ahnenreihe bis Lucia Popp, Dagmar Schellenberger, Marlis Petersen, Diana Damrau und der an der Musikalischen Komödie fulminant reüssierenden Friederike Meinke.
Faszinierender Impulsgeber
Dabei hätte Geistinger nach Offenbachs „Fantasio“ ebenso den Prinzen Orlofsky singen können. Dieser bis zur Karikatur vom psychischen Überdruss-Phänomen ‚Ennui‘ geplagte Dandy ist eine jener beiden Figuren, an welcher sich neben dem Gefängniswärter Frosch derzeit der Wandel des „Fledermaus“-Image besonders bemerkbar machen. Die Figurenporträts des zentralen Ehepaars Eisenstein und Rosalinde erscheinen, obwohl sie die mit Abstand umfangreichsten Partien des Werks sind, weitaus weniger schillernd. An der Oper Nürnberg wird Corinna Scheurle als Prinz(essin) Orlofsky zur First Lady eines Traumschiffs, bei Barrie Kosky ist Orlofsky eine Dragqueen mit Einschlag eines hellenischen Helden und Karneval in Rio. In Leipzig sitzt Orlofsky in der Regie von Peer Lund im Rollstuhl, nimmt Medikamente und ist von einer nachsichtigen bis lüsternen Neugier auf das Leben der anderen getrieben. Die vielen Komödien über vollzogene oder nicht gelungene Seitensprünge der Vergangenheit gewinnen in den gegenwärtig erörterten Varianten von Lebensentwürfen, der Kritik an der Ehe als Form des patriarchalen Machtanspruchs oder sexuellen Missbrauchs und Polyamorie in den Zivilgesellschaften eine neue und veränderte Relevanz. Es wäre interessant, an nicht erfolgreichen „Fledermaus“-Inszenierungen zu untersuchen, ob der Mangel an theatraler Fortune durch handwerkliche Fehler der Inszenierung oder die den ästhetischen Rahmen des Werks sprengenden Konzeptideen verursacht wurde. Auf alle Fälle erweist sich die „Fledermaus“-Musik für die meisten Neudeutungen noch immer als faszinierender Impulsgeber, dessen Anachronismen nur in seltenen Fällen Brüche zu einer Bühnenhandlung mit Gegenwartsbezug bewirken. Auch in den aktuellen Moden aggressiver Bisskraft in den Stoff mittels brisanter Zeiterscheinungen bewahrt Strauß’ Partitur einen unzerstörbaren Zauber.
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!