Köln, im April. – Kopernikanische Wenden sind eine heiße Sache. In der Wissenschaft, im Leben, in der Kunst. Wo gewohnte Standpunkte aufgegeben, wo Blickrichtungen, die uns vertraut sind, umgekehrt werden, rückt die interessierte Öffentlichkeit automatisch auf die Stuhlkante vor, stellt die Ohren in den Wind. Reaktionen, die Frank Kämpfer gut bekannt sind. Mit dem Start seiner themenzentrierten Forum-Ausgaben, der Abkehr vom „Avantgarde“-Prinzip, das sich für ihn als veraltet, weil mit „Dogma und Ausgrenzung“ verbunden, darstellte, sorgt der Neue Musik-Redakteur beim Kölner Deutschlandfunk für Wetterleuchten am Festivalhimmel. Pointiertes Hör-erecho inbegriffen. Jetzt, zum 20-Jahr-Jubiläum des Forum neuer Musik, war Gelegenheit zur Rückschau.
Sicher, diskursive Konzertformate liegen im Trend – bei gleichzeitig starker Tendenz zu Deluxe-Ausgaben, wie sie etwa die in Watte gepackten „Musik im Dialog“-Promiversionen eines westdeutschen Landessenders jüngst an den Tag legen: „Beethoven und Schäuble“, „Bartok und von Schirach“. Mit beidem hatte (und hat) Frank Kämpfer nichts im Sinn. 20 Jahre Forum, das waren 20 Jahre ganz ohne Promis, ganz ohne Watte. Es ging um „La otra america“, um „Ost-asien modern“, um „Echoes of ’68“oder wie in der heurigen Jubiläumsausgabe um „Postmigrantische Visionen“ – in jedem Fall strikt als Thema, nicht als „Motto“ verstanden. Als Kämpfer anfing, die Dimensionen dieses anderen Zugangs aufzufächern, die eigene Handschrift einzutragen, wurde dies schnell als Einschnitt, als Novum empfunden. Dass Musik und Gesellschaft etwas miteinander zu tun haben, war natürlich unstrittig. Nur, ob sich dieser Zusammenhang in einem Festivalprogramm, auf einem Festivalpodium abbilden kann – an dieser Stelle war man neugierig, an dieser Stelle legte sich die eine oder andere Denkerstirn schon einmal in Falten, ging manche Hand zum Bart. Doch der Weg war eingeschlagen. Man spürte es an der Art der Themen und an ihrem Auftreten, wenn im Laufe der Jahre Lectures, Podien, Diskussionen, Gespräche gleichberechtigt neben die konzertierenden Teile traten, wenn, wie in der jüngsten Ausgabe geschehen, ein Migrationsforscher im Kontext eines Musikfestes für ein neues Verständnis von „Integration“ plädieren durfte. Der arme, bedürftige, defizitäre Immigrant, so Mark Terkessidis (krankheitsbedingt per Video-Schalte) sei ein Bild von gestern. Überhaupt sei „Integration“ dann ganz verkehrt, wenn diese immer nur auf das Kopieren von Gegebenem aus sei, etwa, wenn in Bewerbungsgesprächen gefragt werde: „Passt der, passt die zu uns?“ „Hochgradig innovationsfeindlich“ sei dies, meinte Terkessidis. Es gehe um „Vielheit“, also um das genaue Gegenteil von Einförmigkeit vulgo: Einfältigkeit. Gern ging man mit, war der Blick damit doch eigentümlich geschärft für die konzertierenden Teile des Programms.
Was sich zeigte, war, dass dieses (eigentlich gut bekannte, in der Philosophie heimische) „principium individuationis“ mit einer anderen Tendenz des Neue Musik-Betriebes in gewisser Reibung steht. Man kann das hören, wenn vorgestellte neue Stücke gern in gewisse Sprechweisen, Verabredungen der zeitgenössischen Gegenwartsmusik einschwenken, sich im Formenkanon der gut gelüfteten, übersichtlich instrumentierten, gestenreich-pausengetränkten Partituren bedienen. Unschwer kann man sich des Eindrucks erwehren als ob (um hier doch einmal einen älteren Avantgarde-Autor zu zitieren) das Altern des Neuen schon mit der Uraufführung beginnt. Eine Diversität, die das Eröffnungskonzert mit dem Freiburger Ensemble Aventure nicht verleugnen konnte. Dass Samir Odeh-Tamimi (geehrt als im Kontext der Forum-Ausgaben vergangener Jahre meistgespielter Komponist) sein ursprünglich für Bassposaune und Klaviertrio geschriebenes „Láhmed“ als Fagott-Version präsentierte, bekam dem Stück hörbar nicht. Der Wille war da, was fehlte, war schlicht die Behauptungskraft.
Ganz anders der Eindruck des Eröffnungsstücks. „Kataklothes“ für Ensemble des israelischen Komponisten Eres Holz fokussierte, ja bannte das Ohr durch das Atemlose, das Dichte, Verdichtete seiner Sprache. Man verstand: Wenn es heute tatsächlich um so etwas wie „neue Musik“ gehen soll, dann muss es in erster Linie einmal darum gehen, ein Suchen als Dringlichkeit zu etablieren, um sich überhaupt einmal einen Raum zu erobern, in dem man sprechen, atmen, behaupten und so weiter kann. In diesem Sinn gefiel auch „In Schritten“ für Klarinette, Viola, Klavier, eine 2015 entstandene Arbeit der 1977 geborenen türkischen Komponistin Zeynep Gedizlioglu. Die „Vielheitsgesellschaft“, für die Terkessidis plädierte, braucht offenbar immer noch das gute alte Individuum, das sich tatsächlich nicht integrieren, sondern behaupten will, das sich das Heterogene untertan macht, statt im Homogenen mitzuschwimmen. Auch das sind postmigrantische Visionen. u 20 Jahre Forum neuer Musik – für den Veranstalter war dies Anlass, den Blick Revue passieren zu lassen. Was selbstverständlich klingt, was es nicht ist. Wer unter den hiesigen Festivalkuratoren legt seine Karten schon so offen auf den Tisch? Da hörte man anderswo gern einmal mehr. Was Kämpfer anging, geriet sein Referat „20 Jahre Forum als Beitrag zu Integration und Pluralität“ zu einer mit Verve vorgetragenen Bestandsaufnahme, in der der Kurator das Panier noch einmal entschlossen hochhielt, in der Sache klar, im Ton kräftig, ja, provokant: „Wir pfiffen auf Donaueschingen, auf Arditti und das Klangforum Wien. Wir bauten uns stattdessen ein wunderbar buntes Europa neuer Musiken ganz nach unserem eigenen Gusto.“ Zum besagten „eigenen Gusto“ gehörte (und gehört) immer auch der eigene Gestus, mit dem Kämpfer, nomen est omen, die Dinge anzusprechen pflegt . Wie jetzt, da sich ein gut gefülltes Foyer des Kölner Funkhauses noch einmal auf die Probe gestellt sah. Wie war das eigentlich? Wie hatte man das damals gesehen?
Gemischt, muss man sagen. Auf der einen Seite wehte es seinerzeit noch recht frostig aus der Ecke der Avantgarde-Anwälte im Allgemeinen, aus der des DLF-Neue-Musik-Redakteur-Vorgängers im Besonderen, dem klugen, freilich nicht weniger kämpferischen Haupt einer Neuen Musik, die ihren Weg gemacht hatte, die auf etwas zurückblicken konnte und die sich nun fragte, „ob die Richtung stimmt?“ Spiegelverkehrt die andere Seite. In der Ecke der Künstler, insbesondere der Künstlerinnen wurde der neue Wind sofort begrüßt, als Angebot verstanden, als Aufwind genutzt. War auch genauso beabsichtigt, muss man gerechterweise hinzufügen. Der jungen Generation, den Ostdeutschen, den Osteuropäern, vor allem aber den Frauen, den Komponistinnen neuer Musik sollten künftig, wie Frank Kämpfer jetzt noch einmal die Prinzipien zusammenfasste, die Forum-Bühnen gehören. Eine Prioritäten-Liste, in der bereits die ganze Umwälzung steckte: Entschlossene Abkehr vom Kriterium „Materialfortschritt“, der ja längst auf der Stelle trat; parallel dazu ebenso entschlossenes Hinwenden auf die Ebene der Musiker sowie auf die gesellschaftlichen Umstände, in denen hier und heute neue zeitgenössische Musik gemacht, geschrieben wird – eben darin hatte sie ihren Dreh- und Angelpunkt, die kleine kopernikanische Wende wie sie in Köln-Raderthal proklamiert und dort mit den Kooperationspartnern Musikhochschule und Kunststation St. Peter seitdem praktiziert wird.
Wobei die Statistik das ganze Unternehmen eindrücklich beglaubigt: Von den 475 Werken, die in 20 Jahren Forum neuer Musik aufgeführt wurden, stammten 350 aus der Feder von Komponisten, 125 aus der von Komponistinnen; von 100 vergebenen Kompositionsaufträgen gingen 42 an Frauen, 58 an Männer, eine Quote, von der andere weit entfernt sind, wenn sie überhaupt davon träumen. Eigentlich mochte man dem Präsidenten des Deutschen Musikrats Martin Maria Krüger nur beipflichten, als er zur Forum-Eröffnung im Kammermusiksaal, im Beisein des Kulturchefs des Hauses Matthias
Gierth, den Beitrag des Deutschlandfunks als einem auch produzierenden Sender entschieden lobte, nicht ohne den Anteil seines sich als Beweger verstehenden Musikredakteurs an dieser Entwicklung hervorzuheben.