Ein gutes Motto will sorgfältig durchdacht und konzis durchgeführt werden. Beim Lucerne Festival in der Schweiz ist das eigentlich eine besondere Spezialität, nicht so in diesem Jahr. Das diesjährige Motto „Diversity“ wirkte ziemlich gewollt und bisweilen nicht zu Ende gedacht.
Das Problem begann schon mit der Planung. Warum ausgerechnet der Dirigent Valery Gergiev zu einem Festival geladen wurde, das „Diversity“ in den Fokus rückt, bleibt ein Rätsel. Immerhin hatte er im Herbst 2013 als noch designierter Chef der Münchner Philharmoniker auf einer denkwürdigen Pressekonferenz homophobe Gesetzgebungen in Russland relativiert. Als im Frühjahr 2014 die Krim annektiert wurde, begrüßte Gergiev auch dies öffentlich. Warum Gergiev trotzdem zum „Diversity“-Festival eingeladen wurde? Auf Nachfrage betont Festival-Leiter Michael Haefliger, dass es eine Zeit vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine gebe und danach. Nach Kriegsbeginn wurde Gergiev ausgeladen, was die Sache keineswegs besser macht. Dafür aber zeigte sich, dass das Lucerne Festival unter „Diversity“ vor allem „People of Color“ meinte. So wurden zwei dunkelhäutige Musikausübende als „Artistes Étoiles“ verpflichtet: die Sopranistin Angel Blue und der Multi-Instrumentalist und Komponist Tyshawn Sorey.
Zur Eröffnung hielt zudem Chi-chi Nwanoku eine Rede. Die britische Kontrabassistin zählte einst zu den ersten schwarzen Mitgliedern eines europäischen Orchesters und hat einige „diverse“ Klangkörper initiiert. In ihrer Rede sprach sie auch von der Kluft zwischen einer „diversen“ Ausbildung an den Hochschulen einerseits und der Tatsache, dass in klassischen Orchestern kaum bis gar nicht schwarze Mitglieder säßen, andererseits. Ähnliches gilt indessen auch für Kopftuch-Trägerinnen oder Transgender-Personen.
Nach ihrer Rede betrat das Lucerne Festival Orchestra (LFO) das Podium: durchwegs weiße Mitglieder, überdies mit gewöhnlichem Geschlechter-Verhältnis in den jeweiligen Stimmgruppen und an den führenden Positionen. Dieser Widerspruch zum Motto und zur Eröffnungsrede zog sich durch den gesamten Abend. Was beispielsweise die Symphonie Nr. 2 von Sergei Rachmaninow mit „Diversity“ gemein hat, erschließt sich nicht wirklich. Dafür aber gestaltete Anne-Sophie Mutter mit dem LFO unter Riccardo Chailly das Violinkonzert op. 5, Nr. 2 des 1799 verstorbenen Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges. Der gilt als erster „Composer of Color“ der Kunstmusik europäischer Provenienz und wurde zeitlebens als „schwarzer Mozart“ tituliert. Das Werk machte indessen einen recht hölzernen Eindruck: fast schon schulmeisterhaft die Modulationen und Kadenzierungen, einfältig die melodische Erfindung. Zu den besten Werken Bolognes zählt dieses Violinkonzert nicht. Die Aufführung am Lucerne Festival war kontraproduktiv, weil im Grunde sämtliche Klischees eines „unfertig komponierenden Schwarzen“ unfreiwillig bestärkt wurden. Noch ärgerlicher war Mutters Interpretation. Einmal mehr ließ sie satte Portamenti schmachten und zelebrierte ein undifferenziertes Dauervibrato, der typische Mutter-Klang eben. Mit ähnlicher Klanglichkeit, Artikulation und Phrasierung gestaltete die Geigerin in den Folgetagen auch das neue Werk für Violine und Orchester des „Composer-in-Residence“ Thomas Adès. „Air“ heißt das neue Stück, ein wortloser Klagegesang in Gestalt einer „ver-rückten“ Passacaglia. Dabei dirigierte Adès sein eigenes Werk mit dem hellhörigen Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO). Tatsächlich war es einmal mehr die Moderne, die beim Lucerne Festival das Motto rettete: facetten- und assoziationsreich.
Da ist der erwähnte Sorey: „Divers“ ist nicht einfach die dunkle Hautfarbe des 42-jährigen US-Amerikaners, sondern sein Sein und Wollen. Als Musiker ist er auch im Jazz zu Hause. In seinem kompositorischen Schaffen gibt es hingegen einen Bruch zwischen konventionell notierten und improvisierten Werken. Es sind völlig unterschiedliche Persönlichkeiten, die da aufeinanderprallen. Das irritierte und faszinierte bei der Werkschau mit dem LFCO. In den notierten Werken bildet ein weißer, 1987 verstorbener Komponist die zentrale Quelle der Inspiration: Morton Feldman.
Wie in dessen Spätwerk arbeitet Sorey mit radikaler Reduktion der Mittel, Dynamik und des Ausdrucks. Kleinste Motive-Keime werden in Zeit und Dauer gedehnt. Genau das geschieht in „For Anton Vishio“ für Flöte, Klarinette und Klavier sowie in „For Marcos Balter“ für Violine und Orchester mit Klavier, die beide als Schweizer Erstaufführung erklangen: Letzteres mit Chloé Dufresne als Dirigentin. In seinen improvisierten „Autoschediasms I–III“ für Orchester – Sorey selbst spricht von „Live-Kompositionen“ – lässt er hingegen auch überaus expressive, kraftvolle, clusterhaft großflächige Ausbrüche zu.
Die Musik kennt überdies nicht nur extremste Avantgarde mit geräuschhaften Klangaktionen, sondern auch eine fast schon kitschige Hyperromantik – garniert mit skurrilen Vogelmusiken. Das alles passt eigentlich nicht zusammen und wirkt doch in seiner Konsequenz unerhört stimmig und authentisch. Hier scheint ein Komponist um Identität zu ringen, um sie in einer persönlichen Diversität zu finden: ein Zulassen der eigenen Vielfalt als Einheit. Gleichzeitig versteht sich Sorey in seinen „Live-Kompositionen“ als Teil eines gleichberechtigten Kollektivs.
Er agiert eben nicht als anweisender Dirigent, sondern zeigt lediglich grob die Gesten oder Richtungen im Prozess an: auch mit Notizen, die er auf Papierblätter kritzelt und hochhält. Diese Bausteine – Motiv oder Melodien – werden zuvor gemeinsam definiert und erprobt. Bislang hat Sorey mit bis zu dreißig Ausübenden improvisiert, in Luzern waren es neunzig. Ein veritables Großereignis war da zu erleben, und das gilt auch für die Zusammenarbeit der LFCO-Truppe mit Adès. Auch Adès lebt eine schöpferische Diversität, eine Postmoderne inklusive Anleihen fernab der Klassik-Sphäre, aber: Bei ihm ist die Tradition stets omnipräsent. Rund um die Adès-Uraufführung wurde zugleich ein Programm geschnürt, das bei aller Andersartigkeit staunenswert einheitlich wirkte. Ob Igor Strawinskys „Agon“, die Symphonie Nr. 3 von Witold LutosÅ‚awski oder Per Nørgårds „Traumspiel“: Ähnlich wie Adès stellen diese Werke die Frage in den Raum, wie dem Erbe zu begegnen sei. Was stets bleibt, ist eine hörbare Sehnsucht nach Harmonie und Befriedung, und sei es nur als Illusion: eine starke Befragung des Mottos.