Auf den Einladungskarten zu den 6. Internationalen Stuttgarter Stimmtagen (28. September bis 1. Oktober) prangte das Konterfei von Johnny Weissmüller als Tarzan. Es ist das Bild, das jeder kennt. Weißmüller alias Tarzan formt die Hände zum Schalltrichter. Wer hörte dabei nicht schon im Geiste den berühmten Tarzanschrei, diesen markerschütternden Ruf, der, seitdem er das erste Mal zu hören war, der Moderne als Metapher für den „Urlaut“ schlechthin gilt. Doch weit gefehlt. Tarzans Schrei ist ein künstlerisch-kulturell geformtes phonetisches Bild, von dem behauptet wird, es spiegle einen Urzustand von Stimme und Kommunikation wider. Dass sich dahinter aber eine Menge Kultur verbirgt, mithin das Spektrum unterschiedlicher Perspektiven auf den Naturbegriff, darüber diskutierten Mediziner, Sprechwissenschaftler, Logopäden, Pädagogen, Kulturwissenschaftler und Stimmkünstler in diesem interdisziplinären Forum, welches sich das Thema gegeben hatte: „Das Phänomen Stimme: Natur und Kunst – Natürliche Anlage und kulturelle Formung“.
Das Fazit vorneweg: Eine „Naturstimme“ ist reine Fiktion. Auch die berühmte Wagner-Heroine Martha Mödl, die immer stolz war auf eben ihre „Naturstimme“, ist schlicht einem diffusen Naturbegriff aufgesessen. Eine sängerische Ausbildung im strengen Sinne hatte sie nicht, insofern hatte sie eine „Naturstimme“ mit allerlei Unwägbarkeiten, eine un-kultivierte Stimme besaß die Mödl dennoch nicht.
Folgen wir deshalb besser Anja Silja. Ihre früh begonnene und mittlerweile fast sechs Jahrzehnte dauernde Karriere ist das Ergebnis intensiver Schulung. Festgehalten hat sie dies vor Jahren in ihrer Autobiographie „Die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Wege und Irrwege“ (1999).
Im Gespräch mit Jürgen Kesting und dem Phoniater Wolfram Seidner (Berlin) formulierte sie nochmals ihre Regeln, die sich Sänger hinter die Ohren schreiben sollten, so ihnen daran gelegen ist, ihre Kunst so lange als möglich natürlich erscheinen zu lassen. Im Alter von sechs Jahren begann Siljas Gesangsunterricht bei ihrem Großvater. Mit ihm studierte sie immer eingedenk der Maxime: „Der Ton und der Ausdruck entsteht durch das Wort.“
Nehmen wir die Erkenntnisse von Anja Silja mit in den Workshop „Freie Improvisation & Extended Vocal Technics“ von Lauren Newton. In gerade einmal 90 Minuten machte sie zwölf Kursteilnehmer zu Grenzgängern in deren eigener Stimme.
Was bei Newton so einfach klingt, so „natürlich“ ist das Ergebnis einer präzise einstudierten Atemtechnik. Ohne diese ließe es sich nicht so aufregend musikalisch glucksen, girren, plärren, schreien, summen, auf Ton singen. Fazit: Die Natur, die natürliche Anlage einer Stimme ist das Reservoir, aus dem die Kunst schöpft.
Darüber berichtete anderntags Michael Fuchs mit Blick auf die Entwicklungsfähigkeit der Kinderstimme. Fazit: Eine frühe Schulung ist sinnvoll, vor allem mit Blick auf eine eventuelle Professionalisierung. Anders formuliert – die Kunst und die Kultur müssen der ersten Natur ein Schnippchen schlagen. Was dann klingt, ist Spiegelbild der zweiten Natur. Wie extrem die-se geformt werden kann, stellte Bernhard Richter in seinem Vortrag über den Kastratengesang dar. Und wenn wir Thomas Kopfermann folgen, dann tun wir ohnehin nichts anderes, als Paradigmen für Natur zu schaffen, Kunstfiguren wie Tarzan, die den Regeln und Konventionen der jeweils herrschenden Film- oder Bühnenästhetik unterliegen, deren Stimme also keine im engeren Sinne von Natur gegebene ist, sondern historisch-soziale Komponenten impliziert.
Zusammenfassend und mit Blick auf das Tagungsthema lässt sich feststellen, dass das Natürliche der Stimme das Ergebnis von Konventionen ist und somit von sozio-kulturellen Hintergründen geprägt.