Oper und ihr bürgerlich steifes Ambiente gehört aufgeräumt, wenn neues Leben sich darin ansiedeln soll. Der Stuttgarter Komponist Fredrik Zeller, Jahrgang 1965, macht nur wenig Hehl daraus, dass ihm die großen tradierten Werte dieses Genres relativ egal sind. Oper ist für ihn kein Pathos-Transport, sondern wertefreier Spielplatz wie der von der Betreiberseite attestierte Freiraum auf der Computer-Bildschirmfläche, wo man nach Belieben ballern darf. Da war es nur allzu recht, dass Zeller zusammen mit Christian Herzig und Yvonne Gebauer bei der Fahndung nach einem geeigneten Sujet auf die Stummfilmserie „Les Vampires“ von Louis Feuillade aus den Jahren 1915/16 stieß.
Dort war anarchisch surreal vorgeformt, was man suchte. Die Vampire sind eine Terrorgruppe mit manch kleinbürgerlichen Schwächen, die den Reichen an den Kragen will – und vor allem an die Colliers, die um diesen hängen: das richtige Reinigungsmittel, um die verstaubte Bühne der Oper vom Muff zu befreien. Da wird geliebt, geklaut, gefoltert und gemordet, das leichte Sein dessen, dem Moral fremd ist, wird wie mit einem Joystick auf der Bühne bewegt. Irma Vep ist das spiderwoman-artige Supergirl dieser Truppe. Irma Vep? Aha – ein Anagramm von Vamipre! Das „Musikschauspiel über die große Wirklichkeit dieses Jahrhunderts – jenseits der Mode, jenseits des Geschmacks“ (so die Verhütungsformel des Wortes Oper) liebt solche Spiele. „Seeing him“, da wo erste Zärtlichkeit flackert, wird zu „Geheimnis“ und reanimiert somit in Scrabble-Verschiebungen alte Hintergründigkeiten. Auch Bezüge zu heutigen Zeiten des internationalen Terrorismus winken. Eine verschlüsselte Botschaft, die man gegen Ende des zweieinhalbstündigen Antimoral-Puzzles Irma zukommen lässt, gibt zunächst die Buchstaben a und t preis. „Ata“ taucht im verstümmelten Text auf. Terror ist der Zeit enthoben, er albert durch die Generationen. Als Spielfigur der neuen, virtuellen Realität, das will der Schluss des Stücks vermitteln, ist Irma Vep unsterblich. Aber das, auch diese Botschaft kommt rüber, ist gar nicht so wichtig. Konstant bleibt einzig das Entertainment der also ins Ballastfreie vertriebenen Zeit.
Die Musik von Fredrik Zeller macht da voller Vergnügen mit. Sie harkt in Klängen, die sich selbst in die Quere kommen. Auf der Bühne wird fast nur gesprochen: Es ist belangloses Zeug, so wie man sich eben unterhält, wenn man sich wenig mitzuteilen hat: Smalltalk. Man sagt sich deckungsgenau am Telefon das Gleiche wie im Face-to-Face-Gespräch auf gleicher Augenhöhe. Schleifen und Repetitionsstrukturen entstehen, die sich die in mehreren Schichten übergelagerte Musik nicht entgehen lässt. Gearbeitet wird ideenreich mit Zeitlupe und Raffern, mit Totlaufschlaufen, grellen Banalitäten und herben Zwischenschlägen. Samplings, Ensemblestrukturen eines kammerorchestral kleinen Orchesters und, als gewichtigster Part, stimmliche Geräuschkaskaden der bestens aufgelegten Neuen Vokalsolisten Stuttgart unterminieren das Geschehen. Sie doppeln die Ereignisse auf der Bühne gewissermaßen in komponierten O-Ton-Schichten (der Wa-Wa-Dämpfer auf Trompete und Posaune als Mickey-Mouse-artige Konterkarierung von Sprache feiert hier fröhliche Urständ), dann wieder schütten sie die gesprochenen Worte kaskadenartig zu. Zufalls- oder Random-Prozesse spielen hierbei eine Rolle, von Aufführung zu Aufführung bleibt ungesichert, was in der klanglichen Hüllkurve untergeht. Das macht nichts, denn man weiß ohnehin, was abgeht. Ablenkung und Konzentration, Strukturen des Videogame-Players werden ins Spiel integriert. Alles bewegt sich im wertefreien Raum oder wird zur Farce. So zelebriert Zeller das traditionsschwere Opernzwischenspiel nach dem Höhepunkt, hier der Gasvergiftung und anschließenden Ausraubung einer High-Society-Runde, als Ausstellungsakt. Die Orchesterbühne wird angehoben, Musiktheater wandelt sich zum Konzert mit Auftritt des Dirigenten, Applaus und Verneigung. Es erklingt ein „Extended Klaviertrio“, vom Synthesizer mit Gesangslauten aufgefrischt, die sich in Richtung von Muezzin-Rufen (Terrorismus, Islam, fundamental, aha) bewegen, vom Schlagwerk vorangetrieben. Die Musik des Zwischenspiels mit dem griffigen Titel „Anschlag“ hat keine Form, sie ist aus Prinzip diffus und anti. Das Klaviertrio mit seinen Rezepten der kompositorischen Differenzierung hat in dieser Umgebung keine Chance, lächelnd verweist Zeller auf das Abgestandene solcher Konzertformen. Am Schluss dieses Zwischenspiels kommt aus dem Lautsprecher „Klammer zu“, die hilflos museale Musiktradition verschwindet wieder nach unten.
Zeller übte lustvoll wühlend Rache an Gesellschaft und Musikbetrieb. Die Lust an der rotzigen Genauigkeit des Comic-Strips (Videosequenzen der über die Dächer fliehenden Irma Vep friesieren zum Beispiel diese Ästhetik auf) sollte an die Stelle der falschen Richtigkeit – „Rettet die moderne Welt“, proklamiert ein Politiker in seiner gespielten Abscheu vor den Verbrechen – treten. Hier aber ging letztlich einiges schief. Comic-Strukturen im Musiktheater laufen Gefahr, auf Plattfüßen daherzukommen. So wirkte auch hier allzuviel tönern. Das Timing stimmte nicht, wurde angefüllt von Schwerfälligkeiten der theatralen Handlung, die auch immer wieder peinliche Ungeschicklichkeiten offerierte. Schärfe der Zeichnung unterblieb. Die Gegenwart soll von der Gegenwart befreit werden, proklamieren die Terroristen. Das war auch Stoßrichtung Zellers. Das Spiel aber, dem es naturgemäß an Genauigkeit und am kritischen Biss mangelt, blieb, obwohl ihr enthoben, in seiner virtuellen Unschärfe in ihr kleben. Das Stück tat in seiner Ausbruchsattitüde nur so, die Kraft des Nachhaltigen fehlte. Was blieb, war Achselzucken. Vielleicht ist es das Achselzucken der jungen Generation vor dem Popanz alles werteorientierten Tuns. Ich spiele, also bin ich. Aber wozu spiele ich überhaupt?