Das Musiktheater rückt dem Koma zu Leibe – jenem Zustand, in dem die tief Weggetretenen und in den meisten Fällen schon definitiv Entschlafenen auch durch starke äußere Stimuli wie Liebes- und Schmerzreize, durch chemische Keulen oder laute neue Musik nicht mehr geweckt werden können. Für die ungemütliche Annäherung an den „letzten Schlaf“ sorgen der österreichische Autor Händl Klaus und der Komponist Georg Friedrich Haas in der Idylle des Schwetzinger Schloss-parktheaters. Zum dritten Mal begaben sie sich in die Grenz- und Grauzonen von schwerbeschädigtem Leben und mehr oder minder schrecklichem Sterben.
Live-Videoarbeit ist dabei hilfreich. Zu Beginn zeigt sich in zwei hintereinander gestaffelten Goldrahmen auf der Bühne das Parkett aus der Frontalperspektive. Die Gesichter und Leiber der festlich Gekleideten auf den roten Sesselchen lösen sich rasch in immer matter werdende Schemen auf und verschwinden. Sie verlöschen – sehr sinnbildlich.
Vor sechs Jahren eröffneten Händl und Haas ihre für das Mai-Festival des Südwestrundfunks konzipierte Trilogie mit „Bluthaus“. Dabei handelte es sich um eine Oper, die sicht- und hörbar auf die Kellerhaltung von Töchtern in Österreich reagierte und das medial positiv funktionierende Skandalon der Fälle Kampusch und Fritzl aus einer keineswegs beruhigenden Distanz kommentierte. Thematisch allgemeiner gehalten fiel 2013 die der Palliativ-Medizin gewidmete Kammeroper „Thomas“ aus. Sie kredenzte das Geräusch- und Klang-Repertoire sowie Nahaufnahmen der letzten Einsamkeiten. „Thomas“ richtete Blick und Ohren zugleich auf die Kälte einer maschinengetriebenen Krankheitsindustrie, auf Geruchsproben des Sterbezimmers und die Peinlichkeiten des gewerbsmäßigen Trostes.
Nun, zum Dritten, ergeht mit „Koma“ das bei der ersten Begegnung am radikalsten wirkende Musiktheaterstück des Duos Händl/Haas. Die neue Oper erweist sich als hochgradig ein- und ausdrucksintensiv. Die Harmonik des flächig angelegten Instrumentalparts scheint in weiten Partien in immer neuen Nuancierungen wie auf einem unerlösten Dominantseptnonakkord zu verharren, der noch um weitere Mitglieder der nach oben hin immer enger zulaufenden Obertonreihe und mit Teiltönen farbig angereichert wurde. Diese vergleichsweise einfache Folie dürfte angesichts der vorsätzlich stark eingeschränkten Sichtverhältnissen im Orchestergraben konzipiert worden sein: Auch die Arbeitsplätze der Instrumentalisten tauchen immer wieder in jenes vollständige Dunkel, das einerseits auf die „Innensicht“ des Komas verweist, andererseits auf die finale Finsternis.
Aus den weithin ruhigen Klangflächen brechen dann und wann, meist korrespondierend mit Licht, kontrastreiche vitale Klang-Komplexe auf (virtuose Klavierfiguren zum Beispiel erinnern ans Altenteil der Musikgeschichte, heftig aufbrechende Dissonanzen-Kulmination an musikalische Gärungsprozesse im 20. Jahrhundert). Das durchaus abwechslungsreiche Gewebe, dem die (bereits vom Libretto vorgesehene) dreigestaffelte Licht-Regie den Zuschnitt im Großen vorgab, trägt eine knapp zweistündige Zusammenkunft von Michaelas Familie mit den zuständigen Ärztinnen und Pflegern am Krankenbett.
Eine Situation der Ambivalenz: Die in der Bewertung der Situation nicht gänzlich übereinstimmenden und auch von divergierenden Interessenslagen geprägten Angehörigen schwanken, ob sie der Patientin ein Erwachen mit schwerstgeschädigtem Hirn oder den Tod wünschen sollen. Denn die als Lehrerin gescheiterte Michaela, die auch ein Liebesverhältnis mit dem Mann ihrer Schwester unterhielt, lag nach einem Schwächeanfall beim Schwimmen allzu lange im eiskalten See, bevor sie aus dem Wasser gezogen werden konnte – von ihrer Tochter (und die ist seit dem Vorfall verstummt).
Zwischen den beiden hintereinandergestaffelten Goldrahmen scheint die Projektion der dauerhaft ans Krankenlager Gefesselten verschiedentlich auf. Doch die Stimme der kaum noch zu einer Regung fähigen Patientin mischt sich immer wieder in die stockenden Reden der Anderen und deren episodischen Versuche, die dem rationalen Zuspruch Entglittene doch noch mit Worten der Erinnerung an schöne und schreckliche Ereignisse zu revitalisieren. Es ist die Stimme von Ruth Weber, die schon mehrfach zum Gelingen von Haas-Uraufführungen beitrug.
Die vorwiegend in denkwürdiger Weise „unbeschwert“, oft nachgerade leicht und licht wirkenden musikalischen Mittel tragen und befördern eine handlungsarme Handlung. Aufmerksamkeit, Bewusstheit für das Beklemmende und die menschliche Extremsituation stellen sich zuvorderst durch ein radikales szenisches Mittel her, das strikt durchgehalten wird und in dieser Konsequenz seine Logik offenbart: Der Theaterraum wird während des pausenlosen knapp zweistündigen Stücks immer wieder und teilweise über längere Streckenabschnitte zu 99,8 Prozent abgedunkelt. Nur die schmalen Schlitze unter den Türen des alten Theaterchens zeichnen seitwärts Lichtstriche in die Finsternis. Besondere Verantwortung liegt in den Händen der namenlosen Akteure/-innen, die mit den Gesichtern zu den Türen gewandt stehen. In exakter Choreo-graphie decken sie mit ihren Licht-Cashern die Anzeigen der Notbeleuchtung ab, wenn’s an der Zeit ist; und wenn es wieder Licht wird, unterbrechen sie ihr Verdunkelungswerk. Es wird tatsächlich so finster, dass man die Hand vorm Gesicht nicht mehr sieht. Den an Extrem-Situationen gewohnten Sängern bereitet dies vermutlich weniger Probleme als dem Publikum, das ja nicht zuletzt ins Theater kommt, um zu sehen und gesehen zu werden. Insbesondere betrifft es die Mitglieder des SWR-Orchesters, die ihren ohnedies schon herausfordernden Job über längere Perioden im Blindflug absolvieren müssen. Wie sie wohl den Dirigenten wahrnehmen? Vielleicht reagieren sie auf die Differenzierungen in der Atmung von Jonathan Stockhammer. Von allen zusammen aber wird ein ganz außergewöhnliches Maß an Konzentration verlangt: Unterordnung unter den Extrem-Anspruch des Werks und Team-Arbeit über jedes Plansoll hinaus.
Aus den – dem Werk angemessenen – ruhigen Bildern hebt sich besonders markant die vom Regisseur Karsten Wiegand und der Ausstatterin Bärbl Hohmann aufgebotene Tropfen- und Wasser-Animation im vorderen Goldrahmen heraus. Michaelas Waschung ruft die Ambivalenzen des Wassers und der auf das nasse Element gerichteten Projektionen auf – Geborgenheit und Säuberung einerseits, tödliche Gefahren und Tränen andererseits.
Es war ein langer, aber konsequenter Weg zum so weitgehenden Dunkel von „Koma“. Georg Friedrich Haas eröffnete die inzwischen zu stattlicher Länge angewachsene Suite seiner Arbeiten, die sich mit der Nacht und Umnachtung befassen, 1981 mit der Kammeroper „Adolf Wölfli“. Die darauf folgende Hölderlin-Oper benannte das Generalthema kurz und bündig bereits im Titel: „Nacht“. Die nicht zuletzt von einem Leitmotiv der deutschen Romantik genährte Sympathie mit Dämmerung, Dunkelheit, Nacht und Umnachtung spielt dann auch eine Schlüsselrolle in den beiden Musiktheater-Werken nach Texten von Jon Fosse („Melancholia“, „Morgen und Abend“). Nun aber, in Schwetzingen, scheint sie durch den radikalen Coup de théâtre bis zum Äußersten ausgereizt. Die komplexe Musiktheaterkonstellation kulminiert in einer Abschiedsszene sondergleichen. Da wird Michaela von allen um sie Versammelten immer und immer wieder – und durchaus mit der christlich-religiösen Konnotation – in einem ausladenden Decrescendo beim Namen gerufen. Bis auch dieses Ritual einer letzten Rat- und Hilflosigkeit im Dunkel verhallt und längst schon nicht mehr lokalisierbar ist, woher die Wort- und Klangimpulse in einem zu einer eigentümlichen Einheit verschmelzenden schwarzen Klangraum kommen: Michaela … Michaela. Damit offenbart sich „Koma“ als partizipatives Musiktheater kraft Bauart: Die (letzte) Dunkelheit betrifft alle. Obwohl die Saison 2015/16 noch nicht ganz an ihrem Ende angelangt ist, zeichnet sich ab, dass dies die bedeutendste neue Produktion gewesen sein dürfte.