Welcher „normale” Konzertgänger kennt schon Erwin Schulhoff, Viktor Ullmann oder Berthold Goldschmidt? Dass die Werke dieser und anderer Komponisten keine terra incognita bleiben, ist in hohem Maße einer Organisation zu verdanken, deren Engagement und Wirken in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Größe und finanziellen Ausstattung steht. Seit nunmehr zwanzig Jahren betreibt musica reanimata e.V. die Wiederentdeckung und Verbreitung von den Nationalsozialisten verfolgter Komponisten und ihrer Werke, und immer wieder gelingen diesem aus Musikwissenschaftlern, Musikern und Publizisten bestehenden Verein erstaunliche Funde einer quasi „musikarchäologischen” Arbeit.
Verschiedene Fäden liefen hier zusammen: So wollte sich Mitte der achtziger Jahre das Fach Musikwissenschaft an der Universität Hamburg stärker mit einer Friedensgruppe vernetzen: Das politische Engagement führte zur von Peter Petersen geleiteten „Arbeitsgruppe Exilmusik“, man entdeckte die Hamburger Söhne Berthold Goldschmidt und Paul Dessau, dessen „Deutsches Miserere“ zum „Antikriegstag“ 1989 seine Hamburger Erstaufführung erlebte. „Musik aus dem Exil“ hieß auch der Programmschwerpunkt der Berliner Festwochen 1987, die mit der 750-Jahr-Feier der Halbstadt zusammenfielen. Geschichte war angesagt. Habakuk Traber und Elmar Weingarten brachten den Band „Verdrängte Musik“ heraus, der sich auf die verfolgten und vertriebenen Berliner Komponisten konzentrierte. Berthold Goldschmidt, bisher lediglich als Dirigent und Vervollständiger der 10. Sinfonie von Gustav Mahler zusammen mit Deryck Cooke bekannt geworden, erlebte hier sein Comeback als Komponist. Der 1903 Geborene hatte zum großen Kreis vielversprechender Schüler Franz Schrekers gehört, deren Karriere- und Lebenschancen im Dritten Reich vernichtet oder doch schwer beeinträchtigt wurden. Für seine – wohl auf der Flucht verloren gegangene – „Passacaglia für Orchester“ op. 4 erhielt der junge Komponist 1925 den Mendelssohn-Preis, wurde von Hans Ferdinand Redlich („Musikblätter des Anbruch“) „eine der großen Hoffnungen der deutschen Musik“ genannt. Im Londoner Exil gab es zunächst Arbeitsverbot, später die Konkurrenz der Nachkriegsavantgarde – von Goldschmidt selbst wiederholt als eine Art „zweite Vertreibung“ bezeichnet. Als Komponist war er fast vollständig verstummt. Doch die positive Resonanz in Berlin – die 1994 in der seit 60 Jahren fälligen Berliner Erstaufführung der Oper „Der gewaltige Hahnrei“ gipfelte – ermutigte ihn zu einem beachtlichen Spätwerk.
Plötzlich wurden Lücken und Leerstellen der Musikgeschichte spürbar, die ihrerseits „verdrängt“ worden waren, vor denen das etablierte Musikleben aber auch jetzt noch die Augen verschloss. Kontinuierliche, unvoreingenommene Aufarbeitung war gefordert. Die ersten Aktivitäten des 1990 gegründeten Vereins waren Gedenkkonzerte, den im Ghetto Theresienstadt inhaftierten Künstlern gewidmet. Viktor Ullmann, Pavel Haas, Gideon Klein und Hans Krása rückten daraufhin mit ihrer kompositorischen Qualität in den Fokus des Interesses, über ihr Schicksal als Holocaust-Opfer hinaus. Die Gesprächskonzert-Reihe „Verfolgung und Wiederentdeckung“ begann 1992 mit einer Ehrung Darius Milhauds zum 100. Geburtstag; die schillernden Werke Erwin Schulhoffs starteten von hier aus ihre Renaissance – die konzertante Aufführung der Oper „Flammen“ 1994 und ihre spätere Inszenierung an der vom Kuratoriumsmitglied Udo Zimmermann geleiteten Oper Leipzig sind ohne den rührigen Einsatz von musica reanimata wohl nicht denkbar. In den nunmehr 95 Gesprächskonzerten kamen unter anderem der russische Futurist Arthur Lourié, der Serialist Philip Herschkowitz oder der heute Furore machende Schostakowitsch-Freund Mieczyslaw Weinberg mit ihren sehr unterschiedlichen Klangsprachen zu Gehör. George Dreyfus, Ursula Mamlok, Coco Schumann konnten hochbetagt noch „aus erster Hand“ über Exil und Lagerleben berichten. Besonders bewegend – gerade auch in ihrem Bezug auf die israelische Gegenwart – war hier die Begegnung zwischen dem als Hermann Jakob Steinke 1935 aus Saarbrücken nach Palästina emigrierten israelischen Komponisten Tzvi Avni und dem palästinensischen Musikforscher Habib Hassan Touma. Zu den herausragenden Veranstaltungen gehörte auch das Projekt „Musik in Auschwitz und im Warschauer Ghetto“, an dem die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch und die Söhne der Komponisten Szymon Laks und Wladyslaw Szpilman teilnahmen.
Musikwissenschaftler und Zeitzeugen stellten diese persönlich gefärbten Begegnungen stets in den (musik-)his-torischen Kontext. Durch die im Pfau-Verlag erscheinende Schriftenreihe „Verdrängte Musik“ wurde die Vereinsarbeit vielfach wissenschaftlich dokumentiert, so beispielsweise durch die erste Schulhoff-Biografie von Josef Bek, diverse Tagungsberichte oder Materialien zum Australien-Exil deutschsprachiger Musiker. Rechtzeitig zum 20-jährigen Jubiläum kam Band zwanzig zur Klaviermusik von Erwin Schulhoff („Der Vielsprachige“) von Gottfried Eberle heraus. Recherchen und musikwissenschaftliche Aufbereitung der oft nur handschriftlich vorliegenden Manuskripte wurden und werden häufig von den Mitgliedern selbst geleistet. Durch die fruchtbare Zusammenarbeit mit der DECCA-Reihe „Entartete Musik“ konnten klingende Dokumente, vor allem auch größerer Opernproduktionen, hinzugefügt werden, bis diese Reihe bedauerlicherweise eingestellt wurde.
Dafür sind gerade die beiden ersten Exemplare einer eigenen CD-Reihe erschienen, welche auf den vom Deutschlandfunk aufgenommenen Gesprächskonzerten basiert: Zum einen (die durch Anne Sofie von Otter berühmt gewordenen) Lieder und Gedichte von Ilse Weber, die wie so viele „Theresienstädter“ ihr Ende in Auschwitz fand, zum anderen Kammermusik von Siegfried Borris, langjähriger Präsident des Deutschen Musikrats, die durch ihre originelle Klangphantasie frappiert. Stärken und Grenzen von musica reanimata zeigten die Jubiläumskonzerte: Chansons und Satiren aus Theresienstadt präsentierte Winfried Radeke, der selbst vor Jahren an der Neuköllner Oper Ullmanns „Kaiser von Atlantis“ herausgebracht hatte.
Die oft nur als Melodien erhaltenen Nummern des bislang völlig unbekannten Texters und Komponisten Felix Porges hat Radeke behutsam vervollständigt und klangvoll arrangiert, von jungen Sängern und Musikern stilsicher, auch mit dem richtigen Gefühl für ironische Zwischentöne, geboten. Die Gesänge selbst im Kontext des Lagerlebens zu verstehen und auch einen Bezug zum Gespräch mit der Zeitzeugin Helga Kinsky herzustellen, blieb allerdings weitgehend der Phantasie des Publikums überlassen. Im Kammerkonzert mit Werken Theresienstädter Komponisten stellte sich ein anderes Problem: so erklang etwa die fein changierende Harmonik der „Passacaglia und Fuge“ für Streichtrio von Hans Krása reichlich grob und ungenau. Doch erlauben weder die finanziellen Mittel des Vereins noch generell die Bedingungen des Konzertbusiness die Spitzeninterpreten, welche gerade diese diffizile Musik braucht. Und doch teilte sich die Kraft und Komplexität der Klaviersonate von Gideon Klein oder des Klaviertrios von Karel Reiner eindrucksvoll mit. Rundum gelungen wiederum war das Gesprächskonzert mit dem aus Wien stammenden Komponisten Walter Arlen (geb. 1920), der als Neunzehnjähriger in die USA emigrierte und schließlich – wie so viele Künstlerkollegen – nach Los Angeles gelangte. Vermittelt durch eine eindrucksvolle Persönlichkeit entstand ein ebenso fesselndes wie verstörendes Bild der damaligen Lebensumstände, gerahmt von einer frischen und geistreichen Musik aus der Feder des Komponisten und seines Freundes Mario Castelnuovo-Tedesco.
Wenn musica reanimata auch mehr Klein- als Großmeister entdeckt, wie Habakuk Traber in einer Podiumsdiskussion zur Vereinsgeschichte bemerkte, so stellt deren Musik doch die fruchtbare Ebene dar, auf der sich die Gipfelwerke erheben, vervollständigt zugleich das Farbspektrum einer ganzen Epoche. Sie repräsentiert eine musikalische Sprache außerhalb avantgardistisch-dogmatischer Zuspitzungen, die dennoch ihre persönliche Zeitgenossenschaft behauptet – nicht von ungefähr konnte man sie wohl erst im Zeitalter der „Postmoderne“ vorurteilsfrei wahrnehmen. Sie stellt verloren gegangene Zusammenhänge wieder her, sollte sowohl die Musikgeschichtsschreibung als auch den in Standardwerken erstarrten Konzertbetrieb zum Umdenken zwingen. Allerdings muss ihre Interpretation und Rezeption erst „gelernt“ werden, die Musik vom „Verfolgten-Bonus“ befreit werden – und so bleibt das Arbeitsgebiet von musica reanimata unerschöpflich.