Eine Uraufführung der Trias „Die neuen Linien“ zur Münchener Biennale für neues Musiktheater musste verschoben werden. „In Passage“ von Het Geluid mit Tamara Miller, und Ted Hearne hat also erst am 7. Juni Premiere. Die Uraufführungen von „Turn Turtle Turn“ des finnischen Musiktheater-Ensembles Oblivia in der Münchner Stadtbibliothek und „The Gates are (nearly) open“ auf dem Max-Joseph-Platz fanden wie vorgesehen am 5. Juni statt. Zwei Pole performativer Potenziale!
„Die neuen Linien“ bei der Münchener Biennale: Premium-Performances von Oblivia und Novoflot
Bei der Komposition der Chinesin Yiran Zhao für Oblivia handelt es sich tatsächlich um eine Partitur mit Instrumenten und Stimmen. In zäsurierten Sätzen unterschiedlicher Herkunft erscheinen Texte unter anderem von den Oblivia-Mitgliedern Timo Fredriksson und Juha Valkeapää. Die Sätze der Teile „Deep Time“, „Dark Time“ und „And All the Other Times“ erwecken pessimistische Assoziationen, welche durch die tänzerisch leichten Pantomimen des Ensembles gemildert werden. Mit klaren Stimmen, klaren Konturen und klaren Dispositionen der Körper und Klänge im rechteckigen und recht hohen Raum der Münchner Stadtbibliothek bei der Isarphilharmonie ereignet sich ein fließendes Ritualtheater. In mehreren Schattierungen von Pink sind die variierten Trainingsanzüge der fünf in ihrer Heimat Finnland sehr geschätzten Performer. Unter einem sonorem Ächzen aus Lautsprechern – die den Titel gebende „Turn Turtle Turn Installation“ – bewegen sie sich mit den Musiker:innen des Ensemble ö! in die Mitte des Raums. Von den Stufen und aus der erhöhten Cafeteria hat niemand aus dem Publikum optimale Sicht, diese offenbart sich nur in den Galerien der oberen Etagen. Dort ist auch die Akustik für die Kantilenen der Sänger und die farblich differenzierte Instrumentation von Yiran Zhao weitaus besser. Zhao zeigt beträchtliche Gestaltungskraft und gibt der Musik hörbar die Priorität. Bei der Harmonie des Entwicklungsprozesses ist nicht ausgeschlossen, dass Oblivia – keineswegs selbstverständlich bei der Münchener Biennale – dieses Musikkontinuum sogar befürwortete. Die ersten Ensemblegesänge haben eine schon Mahlersche Melodik, welche Zhao mit an Sondheim gemahnender Sprödigkeit untersetzt. Damit hat Zhao schon die Sympathien des zur Uraufführung voll besetzten Saal erobert: Keine komponierten Verfremdungen, Irritationen oder Schock-Akkorde stören ihren Prozess mit sich zu einem Requiem bindenden Kantaten-Sätzen. Der Schluss ist die Forderung nach einem Innehalten der aus der Sinnhaftigkeit wegkatapultierten Bewegung von Menschen durch Räume und Zeiten. Ensemble ö! und dessen Dirigent Armando Merino genießen die volle, tragfähige Akustik im Raum. Auch wenn die Produktion insgesamt einen etwas zu runden Eindruck mischt, überzeugt sie mehr als die assoziativen, sich vom Aussagegehalt entfernenden und zu Missverständnissen führenden Spreizungen anderer Biennale-Emanationen. Der Funke springt über. Das Publikum feiert dieses klar konturierte Empathie-Projekt mit Herzlichkeit. „Turn Turtle Turn“ macht Eindruck, weil man die Arbeitsmethode erkennt und diese sich ohne legitimierenden Konzeptschwall übermittelt.
Novoflot dagegen bietet – wie meist – Fragmente mit hohem konzeptionellem Anspruch. Elisa Limberg setzte auf das Kopfstein-Rondell um das Max-Joseph-Denkmal eine Simultanbühne mit der Attrappe eines U-Bahn-Eingangs, einem Bürocontainer, einer Nische für Band-Auftritte und Rednerecke. Modulare Sequenzen reihen sich zu Performance-Blöcken von mehreren Stunden. Nina von Mechows wollen keine Auffälligkeit. Musik erklingt überwiegend fragmentiert – so von der Sängerin Rosemarie Hardy. Du Yuns unauffällige Komposition ordnet sich dem Gestaltungswillen von Novoflot geschmeidig unter. Ruth Weiss hat Texte über die Mobilität gesetzt. Ein blauer Teppich führt vom Level 0 „Multi-Zero-One“ bis zum Level 11 „All-day entertainment (karaoke, gaming, cinema, show)“, was streng genommen vom obersten Punkt der bewegungsdynamischen Himmelsleiter ins ziemlich platte irdische Paradies zurückstürzt. Novoflot hat wieder an alles gedacht, sogar an mindestens zwei bayerische Volksmusiker für Interventionen an der mehrschichtigen Transfer-Parabel. Auch hier findet Novoflot doch wieder eine metaphysische Ebene.
Diese ergibt sich auch aus den wenigen Minitribünen-Plätzen, die nie voll besetzt sind. Denn das später auch in Berlin gezeigte Projekt ist hier im Portikus-Schatten des imposanten Nationaltheaters ein Transit-Stück. Wie in Franks & Franks Happening „Wie geht’s, wie steht’s“ werden (Zufalls-)Publikum und Passanten zu Protagonisten. Die von Novoflot beabsichtigte Weite wird bedrängt vom Verkehr, von sich zum Ballett-Besuch versammelnden Gruppen, dem urbanen Treiben zwischen Residenz, Postgebäude und belebtem Verkehr. Novoflot, das sich für jede Location neu erfindende Kollektiv, geht hier in der vom Ensemble selbst beschworenen Mobilität auf. Im Sinne des Biennale-Mottos „On the Way“ sind hier tatsächlich alle unterwegs – mit ganz hoher Fluktuation der potenziellen Flaneur-Ressourcen. Bis zu einem vollständigen Loop hält es die wenigsten Passanten auf dem Rondell, einige Zufallsgäste bersten vor Begeisterung. Beim Aufmerksamkeitsmanagement besteht also durchaus noch ausgleichender Entwicklungsbedarf.
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