Betritt man das Festivalbüro der Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt zum ersten Mal, wird dem Besucher innerhalb weniger Minuten klar, dass einem das Meiste, das hier in den nächsten Wochen passieren wird, entgehen muss. Der ohnehin stets vorhandene Wunsch nach programmatischer Ausweitung der Ferienkurse wurde dieses Jahr durch eine Besonderheit verstärkt, die noch mehr inhaltliche Zulieferung versprach: das Open-Space-Konzept. In der Mornewegschule war eine ganze Anzahl von Räumen für Studenten oder Dozenten der Instrumentalmeisterklassen reserviert, in denen sie jedes gewünschte Projekt innerhalb ihres Aufenthaltes realisieren konnten.
Die Idee dahinter war, den Innovationsgeist Darmstadts neu zu beleben und einen Freiraum zu schaffen, innerhalb dessen jenseits der gewohnten Lehrer-Schüler-Hierarchie Musik gemacht und geforscht werden konnte. Und es funktionierte: Nur während der ersten Tage konnte man noch mit einem ruhigen Arbeitsplatz in diesen Räumen rechnen. Die Nachricht vom Open Space sprach sich schnell herum in der Darmstädter Community und bald wusste man beim Blick auf die vor Veranstaltungen überquellende Übersichtstafel nicht mehr, in welchen Workshop man nun gehen sollte. Die Open-Space-Veranstaltungsaushänge spiegelten die Präsenz und das Engagement der aus der ganzen Welt angereisten Studenten wider: Zur Wahl standen experimentelle Jam-Sessions, Theorie-Lektionen, Präsentationen studentischer Arbeiten, technisch orientierte Diskussionen über alle Arten und Typen von Instrumenten (die westlichen, oft mit Elektronik kombiniert, aber auch Notationstechniken traditioneller chinesischer Instrumente) oder öffentlich zugängliche Workshops, in denen Komponisten und Musiker ein Werk erarbeiteten.
Der Spirit der diesjährigen Ferienkurse findet sich – gewissermaßen am anderen Ende des Spektrums – in den Arbeiten der Schreibwerkstatt wieder. Die Meta-Ebene der Musikkritik wurde so zum Bestandteil der Ferienkurse. Ein Blog, das die Teilnehmer führten, enthält Rezensionen, Biografien, Nachrichten, ein Tagebuch und vieles mehr. Es ist weiterhin zugänglich auf der Website des Internationalen Musikinstituts Darmstadt und belegt die Vielfalt der täglich angebotenen Aktivitäten.
Diese Vielfalt ist auch der Grund dafür, dass an dieser Stelle nur ein unvollständiger Bericht gegeben werden kann mit einem subjektiven Schwerpunkt auf den Meisterklassen mit Mark Andre, Georges Aperghis, Brian Ferneyhough, Liza Lim, Rebecca Saunders und Hans Thomalla.
Die einzelnen methodischen Herangehensweisen in diesen Klassen stellten sich ähnlich vielfältig dar, wie die des Workshop-Angebots. Georges Aperghis zum Beispiel zieht es meistens vor, nach der Präsentation seines Stückes die Fragen der Studenten als Impuls seines Unterrichts zu nehmen, während Brian Ferneyhough für gewöhnlich dazu neigt, nach dem Hören eines neuen Werks ein Postulat in den Raum zu stellen, einen kritischen Kommentar etwa oder eine Frage, die dann theoretische oder technische Ausführungen zur Folge haben können, und durchaus auch recht lebendige Kontroversen. Komponisten wie Mark Andre, Liza Lim, Rebecca Saunders und Hans Thomalla gehen wieder anders vor: ihre subtile Art der Fragestellung benutzen sie als Möglichkeit, die Haltung der Studenten zu begreifen. Natürlich hat jeder seinen persönlichen Stil der Nachfrage, um damit einen Diskurs zwischen Meister und Studenten zu ermöglichen, der im Zeitalter einer selbstproklamierten totalen stilistischen Freiheit nur dann sinnhaft sein kann, wenn man die Bedeutung jeder Geste, jeder musikalischen Gestalt und auch die Art und Weise, hinterfragt, wie diese in die komponierte Form integriert sind. Die elektroakustischen Workshops, die in den post-apokalyptischen Räumen des „603qm“ stattfanden, erforderten eigentlich einen eigenen Bericht. Eines aber ist sicher: Es besteht eine unleugbare, jeden Abend aufs Neue erfahrbare Trennung zwischen den beiden Welten. Die elektro-akustische Musik folgte in dem für sie so typischen „Nightlife“-Kontext den eher „klassischen“ Konzerten in der Orangerie. Den Übergang von einem Ort zum anderen, von der spekulativen Konzerthalle zum experimentellen Nightclub, könnte man als den Inbegriff – in inhaltlicher und räumlicher Dimension – einer radikalen Verknüpfung des einen musikalischen und konzeptionellen Universums mit dem anderen verstehen.
Am ersten Abend wurden die Teilnehmer mit Gérard Griseys wuchtigem Opus „Les Espaces Acoustiques“ (1974–1985) empfangen, gespielt vom HR-Sinfonieorchester unter Stefan Asbury, mit Geneviève Strosser an der Soloviola. Verblüffend, dass von dieser riesigen musikalischen Welt das Rascheln des Notenpapiers und der Bögen sowie die generelle Infragestellung der westlichen Konzertpraxis am Ende von Griseys „Partiels“ wesentlich stärker in den zwei Darmstädter Konzertwochen nachhallten als die spektralistische Idee selbst. Letztere war kaum präsent, auch wenn spektralistische Elemente in einigen Stücken eine gewisse Rolle spielten. Im Gegenteil: Geht man davon aus, dass das Eröffnungskonzert auf die eine oder andere Art und Weise das Motto für die folgenden beiden Wochen enthielt, dann kann man sagen, dass die Dekonstruktion instrumentaler Gesten – Grisey nimmt gewissermaßen das in die Musik mit hinein, was normalerweise außerhalb liegt – definitiv der „Mainstream“ der gehörten Musik war: die Erforschung der „Klänge an und für sich“.
Angesichts der Bedeutung dieses Aspekts innerhalb von Griseys „Espaces Acoustiques“ drängt sich eine Analogie in Bezug auf die Geschichte der Ferienkurse auf und man erinnert sich an den immensen Einfluss von Messiaens, im Kontext seines Gesamtwerks eher untypischen „Quatre Études de Rythme“ (1949–1950) auf die Entwicklung des Serialismus. Dies alles offenbarte sich dem Neuling in Darmstadt nicht vor der dritten Nacht, denn zuvor überraschte der zweite Konzertabend am 18. Juli mit der inspirierten Interpretation von Harry Partchs „The Wayward“ (1941–1943) durch das Ictus Ensemble und Sänger Mike Schmid. Partchs extrem eigentümliche Mischung aus instrumentaler Kreativität, Humor, Fremdheit und archaischem American Spirit konnte man auf keines der weiteren Stücke beziehen, die innerhalb der zwei Wochen gespielt wurden (ausgenommen vielleicht ein rock-inspiriertes, kalifornisches Stück von Clinton McCallum am 30. Juli). Demgegenüber war im Konzertprogramm doch stets eine gewisse dekonstruktive Schwere zu spüren.
Aus der Fülle der Konzerte und Stücke, von denen hier nur einige genannt werden können, ragten einige Erscheinungen heraus: etwa die raffinierten und makellosen Reminiszenzen in Ferneyhoughs „Dum Transisset I–IV after Christopher Tye“ (2006/2007), aufgeführt vom Arditti Quartett in einem Konzert mit Uli Fussenegger am 19. Juli, oder der subtile und reflektierte Dialog mit westlicher Tradition in der Arbeit von Hans Thomalla, insbesondere im „Albumblatt für Streichquartett“ (in einem gemeinsamen Konzert mit dem Arditti- und dem Jack-Quartett am 22. Juli), sowie in „Mommentsmusicaux“ (2003–2004), gespielt vom Ensemble Dal Niente am 28. Juli. Auf der anderen Seite war aber mit Bernhard Ganders neuem Streichquartett „khul“ auch ein wirkungsvoller Versuch zu erleben, kraftvolle, energetische Kontinuität und Impulse zu erzeugen.
Man sollte auch einige – in Bezug auf die oben erwähnte, dominante ästhetische Linie – relativ periphere Neuheiten nicht übersehen: am 26. Juli etwa die weiten und dramatischen Klangwelten aus der Ukraine und aus Russland, mit einem starken Stück, „Chevengur“ (2001), von Vladimir Tarnopolski, einem der Kompositionstutoren dieses Sommers, interpretiert vom Studio for New Music Ensemble Moscow und dem Ensemble Nostri Temporis (Ukraine). Und drei Tage später die faszinierend musikalischen Personalstile aus Usbekistan, präsentiert vom usbekischen Omnibus Ensemble, geleitet von Artyom Kim (dieses Konzert hatte übrigens einen reizvollen ersten Teil mit dem Fathom String Trio, von dem man hoffentlich wieder hören wird).
Das sechs Stunden dauernde Finale am 31. Juli schließlich, mit dem Klangforum Wien unter Emilio Pomáricos hypnotisierendem Dirigat, dem Ensemble Modelo62, dem Fathom String Trio und verschiedenen Solisten, gab den 45. Sommerkursen ihren stimmigen und allumfassenden Abschluss. Im Gedächtnis bleiben vor allem das halb verborgene Drama in Georges Aperghis’ „Contretemps“ (2006), Ferneyhoughs majestätische „Funérailles I & II“ (1969–1980), Rebecca Saunders traumwandlerisches „blauuw“ (2004), Orm Finnendahls „Versatzstücke“ (1999–2004), virtuos gespielt von Rei Nakamura, Bernhard Langs kontrastreich klangerfüllte „Monadologie VII“ (2009) und das orgiastische „Final Girl“ (2009/2010) von Jorge Sánchez-Chiong.
Übersetzung: Andreas Kolb