Benedikt von Peter inszenierte vor nicht allzu langer Zeit in Hannover Giuseppe Verdis „Traviata“ und ließ dabei die tragische Heldin der käuflichen und der unbezahlbaren Liebe allein auf der Bühne agieren. Den Rest des singenden Personals postierte er in der Weite des Zuschauerraums. Das Outsourcen einzelner Figuren und Szenen ins Parkett oder auf die Ränge ist zwar längst ein probates Theatermittel, die Reduktion des Bühnengeschehens in dieser radikalen Weise wurde freilich als denkwürdiger Coup de théâtre wahrgenommen und stabilisierte den Ruf des Regisseurs („einer der wichtigen der mittleren Generation“).
Inzwischen ist von Peter Operndirektor im benachbarten Bremen, wo er der Musiktheatersparte wieder ein charakteristisches Profil zuwachsen lässt, das sie zuletzt unter dem Intendanten Klaus Pierwoß besaß. Laurent Chétouanes extreme Interpretation der „Così fan tutte“ von Lorenzo da Ponte und Mozart stellte in der vergangenen Spielzeit klar, in welche Richtungen es bei und mit Herrn von Peter gehen soll. Nun hat er sich selbst mit Giacomo Puccinis „La bohème“ eines der ausgelaugtesten Werke des Opern-Kernrepertoires vorgenommen (ein Schelm, eine Schlange, wer Böses dabei ahnt). Aber heimlich gehofft haben wohl die meisten Premierengäste, dass der alten Künstler- und Love-Story ein markanter neuer Aspekt abgewonnen wird oder überhaupt eine Neubewertung der Reiz- und Rührgeschichte aus den Pariser Vormärzjahren (neben dem damals entstandenen Fortsetzungsroman von Henri Murger und Théodore Barrière stützte sich das zur Verklärung der weiblichen Hauptfigur neigende Libretto von Luigi Illica auf die 1845 publizierte Erzählung „Mademoiselle Mimì Pinson, profil de grisette“ von Alfred de Musset).
Hörbar unterstützt wurde der Bremer Operndirektor in seinen Intentionen vom Dirigenten Markus Poschner, der eine mustergültige „moderne“ Puccini-Lesart anbietet: Einen durchgängig transparenten Ton des hinter erniedrigter Balustrade postierten Orchesters, weithin superzart, dann aber auch genau aufbrausend und hochdramatisch-wuchtig am zweiten und dritten Aktschluss.
Gewiss spielen die Fragen nach der ästhetischen Gegenwart dieser Oper, die auf der Ebene des Textes wie vom Kontingent der 1896 uraufgeführten Musik her ganz dem 19. Jahrhundert angehört, allemal eine zentrale Rolle. Dass sich der murksende Maler Marcello, der noch unerprobte Literat Rodolfo, der mit grotesken Mucken gelegentlich zu Geld kommende Musiker Schaunard sowie der intransigente Philosoph Colline in Jeans und H&M-Klamotten aus dem Second Hand Shop ihre aussichtlose Berufssituation mit übertriebener Lustigkeit kompensieren, ihre Bedürftigkeit für Freiheit erachten und sich fortgesetzt mit Farbe beklecksen, erscheint nicht als das entscheidende Ferment der Modernisierung dieser fin-de-siècle-Oper. Es sind die Kehrtwendungen in der Hauptsache und die gravierenden Aussparungen, die die Aktualität plausibilisieren. Rasch wird erkennbar: Hier gilt’s nicht dem Leben der Bohème (so der originale Titel der Libretto-Vorlage), sondern den Kunstbemühungen einer als Strandgut des Kulturbetriebs vorfindlichen Bohème, die ganz von hier und heute ist.
Die vier Dachgaubenexistenzen stellen sich also vor. Sie treten nacheinander an die Rampe und fangen an, den Raum mit Tisch, Stühlen und ärmlichem Hausrat zu füllen. Ihre gute Laune ist erkennbar sarkastisch – ein Optimismus der Verzweiflung, ein Trotz der Erfolglosigkeit und eine zynische Form des Alternativ-Seins. Sie spritzen sich fortgesetzt mit Malerfarbe voll, nehmen auch die karge Mahlzeit aus bunten Plastikflaschen zu sich und spielen körperbetonte kindische Spiele, die teilweise so etwas wie Kunstproduktion darstellen.
Die Aussparungen nehmen ihren Anfang damit, dass Mimi nicht auftritt. Nadine Lehner singt seitwärts hinter einem Gaze-Vorhang mit blitzsauber klarem, angenehm leicht geführten, bei den Kulminationspassagen aber auch hinreichend dominanten Sopran von der zartesten Erwartungen, den ersten Erfüllungen und Enttäuschungen der Liebe. Sie erscheint als Projektion des Literaten, der sein Erstlingsdrama ins Feuer wirft – vielleicht nicht nur, damit es in der Mansarde nicht ebenso kalt ist wie draußen im Schneetreiben. Luis Olivara Sandoval singt als Rodolfo mit seinem gutmütig-sympathischen Tenor und der leicht ironisch gefärbten Intonation des Herzensbrechers den Kollegen die Szene der ersten Annäherung vor und der als Maler Marcello agierende Raymond Ayers steigt auf das Rollensingspiel ein. Das verfremdet die trivial-anrührende Szene auf verblüffende Weise und verleiht ihr neuen Sinn: Der Poet sucht nach den Usancen des 19. Jahrhunderts eine „Muse“ und erschafft sie sich als Kunstfigur, wobei er das, was eine scheue junge Frau sich vom Leben erhofft, projiziert. Da klingt vertrackt, funktioniert auf der Bühne aber ganz einfach. Auch der ungebetene Besuch des Vermieters, der die Miete abholen will, ist ein Sketch, den die vier (sich selbst) als Rachephantasie vorspielen: Der Hausbesitzer als Repräsentant des kapitalistischen Scheiß-Systems und geiler alter Knochen!
Selbst im 2. Akt, in dem das künstlerische Quartett nicht wirklich ins Nobelrestaurant MOMOS aufbricht, sondern das Weihnachtsfestessen aus der Sahnesprühdose auf der kahlen Tischplatte zu sich nimmt, ist das Fehlen der Auftritte von Chor und Kinderchor plausibel – die Stimmen der kauf- und festfreudigen Pariser dringen eben durch die Straßenschlucht herauf in den Olymp des kunstliterarischen Elends, in dem auch die Nasen hoch getragen werden. Noch zwanghafter als im ersten Akt wirkt die mit Kleksen und Rangeln, Herumhampeln und einer Luftschlangenpistole generierte Lustigkeit. Der Bassist Patrick Zielke als Schaunard und der geschmeidige Bassbariton Christoph Heinrich fügen sich vorzüglich als Juniorpartner in das Beziehungsgefüge der Desparados. So manches große und ungleich teurere Haus verfügte in den letzten Jahren bei seinen „Bohème“-Vorstellungen über kein annähernd so kompetentes Ensemble. Zu dem kommt noch Marysol Schalit, die der Bordsteinschwalbe Musetta die gebührend selbstbewusste, durchschlagkräftige, anteilnehmende und angenehm ordinäre Stimme verschafft – ebenfalls von der Seite aus dem Off.
Konsequenterweise findet auch der Umzug an den Stadtrand und in die leicht veränderte Lebenswelt des temporär als Auftragsmaler tätigen Marcello und die „Normalisierung“ seines eifersüchtigen Verhältnisses nicht auf der Bühne statt, sondern nur als etwas, was die Vier sich selbst vorspielen. Aber die große Ernüchterung meldet sich nicht nur beim Bericht über die Entzweiung von Mimi und Rodolfo, sondern dadurch, dass sich ihre Tuberkulose nicht länger verheimlichen lässt – die Sopranistin, ganz in Schwarz, schreitet über die Bühne. Als Botin des eigenen Todes. Dieses überwirklich-reale Erscheinen wiederholt sich im letzten Akt, indem keine Frohgelauntheit mehr aufkommen will und der Tisch ganz leer bleibt (die Tischplatte wurde als Untergrund für ein Gemälde, den „Zug durchs Rote Meer“, benötigt): Mimi zeigt sich und ihr wahres treues Gesicht zum Sterben, dem die vier jungen Männer fassungslos gegenüberstehen. Die Dachstübchenhocker- und Bordsteinschwalbengesellschaft der Pariser 1840er Jahre ist im Milieu eines Bremer Prekariats des jetzigen Jahrzehnts anlandet, gerade auch dadurch, dass das Werk die ursprünglich vorgesehenen Wechsel der Schauplätze nicht mehr mitvollzieht, sondern die Szene gleichsam künstler- und kunstimmanent beatmet.
Durch seine szenische Aussparung und die Konzentration im Wesentlichen auf die vier „alternativen“ und Hunger-Künstler in der Dachkemenate sowie deren Frauen-Projektionen schafft Benedikt von Peter eine neue Ebene von szenischem „Realismus“. Gleichviel, ob die Gruppenerfahrungen des Quartetts als „bühnenreal“ wahrgenommen werden oder als heiter-sarkastischer Surrealismus: In Bremen wurde gezeigt, dass und wie der Männertrupp mit seinen wenig fruchtbaren Kunstbemühungen am Leben vorbeilebt und wie Mimi nicht wirklich zum Leben kommt. Vor allem wird auch evident, dass und wie der arme Poet und die Frau, die er sich als „Muse“ ersinnt, nicht zusammenkommen können (anrührend, als wären sie die Königskinder des Märchens). Das ist eine plausible und schöne Erzählform der alten Geschichte – vorm Panorama der Verwerfungen und Verwüstungen der postmodernen Kunstbemühungen einer Generation, auf die der Arbeitsmarkt nicht wartet und der Kunstbetrieb eigentümlich gespalten reagiert.