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Magdalena Kožená in Pelléas et Mélisande in der Berliner Philharmonie. Foto: © Monika Rittershaus
Magdalena Kožená in Pelléas et Mélisande in der Berliner Philharmonie. Foto: © Monika Rittershaus
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Die schwangere Melisande – Peter Sellars inszeniert Debussys Oper in der Berliner Philharmonie

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Der amerikanische Regisseur Peter Sellars hat vor zwei Dezennien Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ im Musiktheater in Amsterdam als eine heutige Szenenfolge bebildert. Die Neuinszenierung des derzeitigen „Artist in Residence“ der Berliner Philharmoniker nutzt die zahlreichen Ebenen der im Berliner Volksmund „Circus Karajani“ genannten Philharmonie für seine überaus intensive, auf klassische Requisiten verzichtende und eine die Handlung auch in den Zwischenspielen weiterführende Darstellung eines permanenten, offenen Voyeurismus.

Haupt-Spielfläche ist ein zwischen zweiten und ersten Violinen errichtetes Leuchtpodest. Vielfach wechselnd definiert ist dieses Podest gleichermaßen Turm, Fels und Ufer des Grottensees. Zehn senkrecht aufgestellte, farbige Leuchtröhren im Raum definieren weitere Zentren dramatischer Topoi, die von den Sängerdarstellern direkt oder über Umwege durchs Foyer erstaunlich schnell und musikalisch auf den Punkt erreicht werden.

Die Solisten sowie drei namentlich genannte stumme Darstellerinnen sind allesamt unauffällig schwarz gewandet, die Herren in Hosen und Hemden, die Damen in schwarzen Kleidern.

Nur Melisande, mit mittellangen, privaten roten Haaren, läuft als Besonderheit stets barfüssig. Im dritten Akt liebkost sie ihren Schwangerschaftsbauch, in welchen sie dann der eifersüchtige Ehemann Golaud treten wird. Aber Mélisandes Dienerinnen attestieren ihr anschließend pantomimisch, dass das Ungeborene in ihrem Leib noch am Leben ist.

Als moderne Frau nimmt Mélisande vier Akte lang ihr Geschick selbst in die Hände, sie streichelt Golaud nach ihrer ersten Begegnung, liebkost und küsst Pelléas mit großer Selbstverständlichkeit, signalisiert vorangegangene Erfahrungen dieser Frau, deren Vorgeschichte im Dunkel bleibt. Pelléas ist ein schleichender Traumtänzer, krank, leidend an Krämpfen, aber leidenschaftlich eruptiv in seiner Liebe zu Mélisande.

Auch dessen Bruder Golaud ist von Anfang an als Kranker gezeichnet, mit Würgegriffen quält er sich selbst und die Anderen, ohrfeigt seine Frau, dreht seinem Kind und seinem Bruder die Arme um. Dabei gebärdet er sich bisweilen so gebrechlich, wie der sich stets auf die Treppen und Podestabsätze stützende, hinter den Posaunen auftauchende König Arkel. Verliebt in Mélisande, darf Arkel sie auch auf den Mund küssen.

Der von seinem Vater Golaud als Spion eingesetzte Yniold wird von der Regie mit zusätzlichen Auftritten aufgewertet. Er flüchtet in eine Welt der Metaphorik, wenn er das Spielpodest als Felsbrock wegzuschieben versucht und die von ihm beobachteten dunkelhäutigen Dienerinnen als Schäfchen definiert. Vergleichsweise banal ist hingegen die Lösung, den Schäfer (Sascha Glintenkamp) als Geheimpolizisten zu deuten, welcher die Ausweise der Dienerinnen zu sehen verlangt und einer von ihnen dann Handschellen anlegt. Im Finalakt trägt Golaud diese Handschellen, und am Ende umarmt er damit seinen Sohn Yniold.

Die spannendsten Momente in dieser keineswegs reduziert wirkenden, konzentrierten Aufführung bieten die Berliner Philharmoniker. Da wird ein Pizzicato zum Schreckmoment, eine Figur der Kontrabässe zum fesselnden Ereignis. Hinschmelzende Violinsoli bleiben ebenso im Gedächtnis, wie das dicht gefüllte, schwebende Pianopianissimo am Ende des ersten Aktes, das erst mit dem Abschlag des Dirigenten geerdet wird.

Zum echten Partner inmitten des intensiven dramatischen Spiels dieser ungewöhnlichen Inszenierung wird Simon Rattle, der mit dem ganzen Körper die Umsetzung der Partitur indiziert, sich mit den Protagonisten geschmeidig mitbewegt, mitatmet, stumm deren Einsätze mitsingt. Seit seinem Berliner Debüt mit dieser Oper im Jahre 2006 scheint sich Rattles Klangempfinden noch verdichtet zu haben. Seine Lesart der 1902 in Paris uraufgeführten, eigenwillig impressionistischen Partitur ist durchaus synästhetisch: ein Farbenrausch mit immer wieder verblüffenden Schattierungen und Wechseln, welche die Inszenierung – als farbmischende Lichtspiele, Reflexe an den weißen Wänden (Lichtdesign: Ben Zamora) – aktiv nachzuvollziehen bemüht ist.

Die von Nicolas Fink einstudierten Mitglieder des Rundfunkchors Berlin intonieren den Chor der Seeleute hinter dem Publikum, auf der obersten Empore; ein Effekt, vergleichbar der Chor-Positionierung in der jüngsten „Aida“-Produktion in der Deutschen Oper Berlin, doch in der zu „Schloss Allemonde und Umgebung“ umgedeuteten Architektur des Scharoun-Baus durchaus stringenter und verblüffender als in Fritz Bornemanns Architektur.

Zum makellos ziselierten Orchesterklang treten erstklassige gesangliche Leistungen der durchwegs auch ohne direkten Dirigentenkontakt äußerst sicheren und souveränen Solistenmannschaft. Mezzosopranistin Magdalena Kožená gestaltet eine verblüffend aktive, sich ihrer Sinnlichkeit ebenso bewusste wie diese selbst auskostende, betörend singende, gleichwohl kaum ätherische Mélisande. In der Altistin Bernarda Fink als Geneviève tritt ihr eine ebenfalls aktive Frau zu Seite, die ähnliche Erfahrungen im Umgang mit dem männlichen Geschlecht sinnreich zu signalisieren versteht. Abgesehen vom Knabensopran des Yniold (hochgewachsen, textdeutlich und keineswegs kindlich singend: Elias Mädler, Solist des Tölzer Knabenchors) kommt der Verzicht auf die hohen Stimmlagen besonders wirkungsvoll zum Tragen, wenn die männliche Titelpartie nicht von einem Tenor, sondern von einem Bariton gestaltet wird – und insbesondere dann, wenn der an Belcanto-Kultur mit dramatischem Kern wohl kaum zu überbietende Christian Gerhaher den Pelléas verkörpert. Bassbariton Gerald Finley schafft dem Golaud ein in seinen psychischen Schwankungen unberechenbares, spannendes Rollenprofil. Franz-Josef Selig als Arkel trumpft mit satten, samtenen Bass-Farben auf, und der Bassist Jörg Schneider als Arzt bewirkt im Schlussakt verstärkt basslastigen Tiefgang. Denn Yniold hat in Sellars’ Inszenierung zwar die letzte Aktion, bleibt aber in der Partitur des fünften Aktes von Debussys Oper stumm.

Da die Aufführung erst um 20 Uhr begann, dauerte der Premierenabend in der Philharmonie bis weit in die Mitternachtsstunde – den heftigen, einhelligen Applaus mitgerechnet. Gleiches wäre aus Gründen der Techniker-Tarife an einem deutschen Opernhaus kaum realisierbar.

  • Weitere Aufführungen: 17.12., 19.12., 20.12.

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