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Philippe Jaroussky (Valouchka) und Komparserie. Foto: © William Minke

Philippe Jaroussky (Valouchka) und Komparserie. Foto: © William Minke

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Die Stadt, die Harmonie und der Tod – Marc-André Dalbavies „Melancholie des Widerstands“ an der Berliner Staatsoper

Vorspann / Teaser

Welten, die aus den Fugen geraten, geben mitunter ganz hervorragende musiktheatralische Sujets ab. Ganz besonders aber dann, wenn dabei relevante Opera herauskommen mit ästhetischen und/oder theoretischen Lösungsvorschlägen, wie nun die Kunst selber zur Verbesserung der Lage beitragen könnte. Freilich, ob diese Vorschläge dann etwas taugen oder überhaupt nichts, ist indessen sowohl weniger von Bedeutung als auch inhaltlich stets umstritten – oder halt interpretationsbedürftig. 

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Hauptsache, das Werk als solches gelingt und gerät überzeugender, als das, was es uns mitgeben möchte. Prominente, echt deutsche Beispiele wären da, natürlich, Wagners „Meistersinger“, aber auch Pfitzners „Palestrina“ oder Hindemiths „Harmonie der Welt“. Musik ist ihnen nicht nur Mittel, die Misere darzustellen, sie ist auch die Lösung. Und so mochte sich manch einer der Opernkenner und -liebhaber, die sich am vergangenen Sonntag zur Uraufführung von Marc-André Dalbavies und David Martons „Melancholie des Widerstands“ in der Staatsoper unter den Linden einfanden, vor allem an Pfitzners Polyphonie-Legende oder Hindemiths Kepler-Oper erinnert haben, an deren einsame Schöpfer und ihre Mühen um die Musik, so wie sie sein sollte. Ideologiefreier allerdings geht’s in „Mélancholie de la résistance“ um die Musik, so wie sie sein könnte.

Oder, wie sie hätte sein können, wäre nicht der ganze irdisch ungebärdige Rest, die Unsauberkeiten wie Pythagoreisches Komma und Wolfsquinte, der Wohltemperierten Stimmung zum Opfer gefallen, hätte man diese großen Un-Stimmigkeiten in den Intervallen, die unweigerlich irgendwann kommen, nicht in ganz kleine, über die ganze Klaviatur verteilte säuberlich versteckt, sie unter die nunmehr möglichen, funkelnden neuen Klangteppiche gekehrt. So jedenfalls sieht es der widerständige Melancholiker und innere Emigrant Monsieur Esther, ehemaliger Musikschuldirektor einer Stadt am zerbröselnden Ende Europas im Südosten. Und während die Finsternis rundum zunimmt, die Bäume umfallen, die Züge von irgendwo nach nirgendwo überfüllt sind, der Müll sich türmt und finstere Marodeure in Mänteln den Ort unsicher machen, verstimmt er sein Klavier und versenkt sich in eine von den Zeitläuften verwehte Ordnung der Töne.

Jene blasen aber umso heftiger, und es werden ihnen viele zum Opfer fallen. Nicht seine Noch-Gattin, Mme Esther, die er aus der Wohnung jagte, um Ruhe zu haben; sie wird sich mit den Militärs glücklich arrangieren, die das Gemeinwesen schlussendlich in Gleichschritt gebracht haben werden. Nein, neben den üblichen kollateralen Opfern, schlicht Leuten auf der Straße, werden es vor allem die kleinbürgerliche Witwe Mme Pflaum sein und beinahe auch ihr Sohn Valouchka, ein kindlicher Postbote engelhaften Wesens, der die Sphären dieses untergehenden Kleinstuniversums miteinander verbindet, ihnen die communio erteilt. Er bewundert den Musikprofessor, bringt ihm sein Essen und dessen Schmutzwäsche zur getrennten Gattin; er sucht verzweifelt Kontakt zu seiner Mutter, die sich in ihrer Wohnung mit Nippes, kandierten Kirschen und Operettenmusik von der Außenwelt abschirmt; und mit den stets gleichen Gästen der Kneipe stellt er allabendlich die Planetenbewegungen nach, um ihnen die Sonnenfinsternis zu erklären. Noch bevor aber dieser kakanische Kosmos untergeht, bekommt er noch Besuch von gleichermaßen attraktiven wie gefährlichen Schaustellern mit einem riesigen ausgestopften Wal und einem winzigen Wesen namens Herzog, das finstere Drohungen ausstößt – ganz nach Kafkas Naturtheater von Oklahoma, wo es heißt: „Verflucht sei, wer uns nicht glaubt!“

László Krasznahhorkais ungarische Romanvorlage erschien 1989, als das begann, was Osteuropa hinter sich hat und Westeuropa womöglich noch vor sich, und kreiste in phänomenalen Geschichten und wuchernden Sätzen um den Untergang bestehender Ordnungen mit mitleidsvollen Blicken auf ihre phantasierenden Leidtragenden. So ist vorzüglich die Literatur dieser Gegend, ewigen Kriegs- und Krisengebieten, phantastisch und fürchterlich. Nun lag „Melancholie des Widerstands“ bereits sowohl Béla Tarrs beachtlichem Film „Werckmeister Harmonien“ von 2000 zugrunde, wie auch Peter Eötvös‘ letzter Oper „Valuschka“, der einzigen in seiner Muttersprache, die in ihrer deutschen Fassung erst Ende Februar dieses Jahres eine beachtete Premiere am Theater Regensburg hatte. Steile Vorlagen für das vielköpfige Autorenteam, das für die jetzige Premiere an der Berliner Staatsoper tätig war: den Komponisten Marc-André Dalbavie, den Literaten Guillaume Métayer und den Regisseur David Marton (dem einzigen Ungarn) als Librettisten sowie nicht zuletzt den Filmregisseur Chris Kondek, denn das Werk, welches sie vollbrachten, nennen sie „Eine filmische Oper“.

„Eine filmische Oper“

Was sie damit auf die Bühne der Staatsoper brachten, das ist allein schon hinsichtlich des gesamten Aufwands sowie der Koordination der Abläufe, Gewerke und Szenen beeindruckend. Kein bloßes filmisches blow up gibt es zu sehen, sondern ein penibelst getaktetes Ineinander von live Musik und live entstehenden Filmbildern, die während der Handlung jedes Mal neu in den Kulissen auf der Drehbühne oder in einem Modell aufgenommen werden, um auf den Bühnenprospekt oder die Leinwand auf der Vorderbühne projiziert zu werden. Großaufnahmen, Kamerafahrten und fingerte Außenaufnahmen durchdringen sich so zu bezwingenden Bildtableaus. Allein vor dem Portal sieht die Oper aus wie gehabt mit dem Orchestergraben und dem um-temperierten Klavier Esthers auf der Vorderbühne. 

Aus dem Graben heraus hält Marie Jacquot das ganze Gewirke bewundernswert zusammen und im Fluss, fein und zart gefolgt von einer groß besetzten Staatskapelle, welche Dalbavies schwankende Tonalitäten zum Schweben bringt. Großformatig hat er das Werk durchstrukturiert, wohl auch in Reverenz zum an gleicher Stelle vor 99 Jahren uraufgeführten „Wozzeck“, in Exposition, drei durch symphonische Zwischenspiele unterbrochene Durchführungen und eine Coda, wobei auch kleinformatige Szenen einzelne Titel bekommen wie „Rückzugsfuge“, „Generationsharmoniken“ oder „Stabat mater“. Davon bleibt die großorchestrale Verstimmung von Bachs cis-Moll-Fuge aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers am nachhaltigsten in Erinnerung, da die musikalische Architektur sich nicht erschließt und eher papieren bleibt. Gerne hätte man mehr gehört, mit längerem Atem auskomponierte Strecken, was aber wohl auch deshalb nicht ging, weil Martons Live-Konzept und die gewichtige Romanvorlage vor der Musik feststanden, viel Stoff also zu bewältigen war mit dem entsprechend musikalisch eingeschränkten Spielräumen.

Die ihrigen vorzüglich ausgenutzt hat die frankophone Starbesetzung mit Philippe Jaroussky als ätherischem Varouchka und Sandrine Piau als seine Mutter, Mme Pflaum, eine Art in die Jahre gekommene und verhärmte wunderbare Amelie, sängerisch wie darstellerisch, und man meinte, Frankreich ist Filmland!, auch in den Aufnahmen eine andere Art von Präsenz zu verspüren. Was nicht gegen die beiden anderen Hauptrollen gewendet werden darf, Matthias Klink und Tanja Ariane Baumgartner als Monsieur und Mme Esther, und auch nicht die notablen Bürger Roman Trekel, Christian Oldenburg und David Oštrek, die alle mit viel Intensität zum Gelingen dieses extrem aufwändigen Werks beigetragen haben, das vom nicht ganz so gefüllten Auditorium heftig und nicht ganz so lang akklamiert wurde.

Bliebe eventuell noch die Frage nach dem gewaltigen Aufwand an Bühnen-, Film- und Tontechnik, dem orchestralen Glanz und sängerischem Gloria, dem ganzen Überbau von der Disharmonie der Welt und ihren gewalttätigen Vereinheitlichungen. Dass Oper, die Staatsoper unter den Linden allemal, das bewältigen kann, steht nach diesem Abend völlig außer Frage. Und wer sonst noch? Aber Pfitzner und Hindemith spielt ja auch kaum jemand.

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