Man fühlt sich an einen anderen Ort versetzt: Da war eben noch der hektische Verkehrslärm, Fetzen und Stimmen, Schritte auf dem Asphalt, Musik aus einem Café – alles recht ungeordnet und meist nur unbewusst wahrgenommen. Jetzt mutet ein gleichmäßiges Rauschen regelrecht idyllisch und meditativ an. Es ist ein Wasserrauschen tief aus der Kanalisation – und eine simple Konstruktion aus Gummischläuchen, Trichtern und einem Kopfhörer hat den verborgenen Klang an die Oberfläche geführt. So kann man Bonn – oder eine andere Stadt – auch hören. „bonn hoeren“ ist ein Projekt, das bereits fünf Jahre in Bonn Bestand hat und in diesem Jahr zu einem großen, zweiwöchigen Festival ausgeweitet wurde.
Sucht man in den vielen Projekten, Installationen, Workshops, Gesprächen und Performances einen Bezug zur zeitgenössischen Musik, könnte man als erstes jenes berühmte Stück von John Cage heranziehen, bei dem in viereinhalb Minuten „nichts“ passiert – und dieses Nichts eben von den Zuhörern immer mehr mit dem Ablauschen der akustischen Umgebung angefüllt wird. Wo eben eine Umgebung zum Klingen gebracht wird. Obwohl es nach dem Credo des künstlerischen Leiters Carsten Seiffarth eben darum geht, die Stadt zum Klingen zu bringen und eben nicht zu beschallen, sieht dieser den Bezug zu den Ideen von John Cage nur als einen von vielen an. Das ganze komplexe weite Feld von Klang-Kunst sei doch vielmehr im Bereich der bildenden Kunst verortet, geprägt etwa durch die Fluxus-Bewegung seit den 1970er-Jahren und vielen weiteren Strömungen, die eben auch die akustische Komponente immer mehr als künstlerisches Material einbezogen habe. Seit fünf Jahren nun veranstaltet die Bonner Beethovenstiftung ein großes internationales Gipfeltreffen in Sachen akustischer Kunst im öffentlichen Raum. Das Verhältnis zwischen Klang und dem Raum steht dabei immer wieder im Zentrum. Die Pluralität der Ansätze ist immens.
Wer sich mit offenen Ohren durch Bonn treiben lässt, wird irgendwann in der Nähe des Hauptbahnhofes einen mysteriösen, tiefen Ton wahrnehmen. Er kommt aus Lautsprechern, die in einem steinernen Würfel installiert sind. Aber die Erzeugung dieses Tones geht in der Installation „Grundklang Bonn“ von Sam Auinger betont „analog“ vonstatten. In eine Art Klangröhre strömt die ganze ungeordnete urbane Geräuschwelt hinein, um sich wie in einer Orgelpfeife oder einem Didgeridoo zu bündeln und durch die Eigenfrequenz dieses Hohlkörpers schließlich einen stationären Ton zu formen.
Ein unvergessliches Erlebnis ist außerdem die Fahrt mit dem Klang-Fahrrad im Rahmen des Projektes „Bong“ von Kaffe Matthews. Zwei Lautsprecher sind an jedem Bike montiert und die Einspielungen variieren je nach Position des Radelnden. Viele Pioniertaten in Sachen Klangkunst im öffentlichen Raum – unter anderem auch Auingers Arbeiten – werden übrigens in der Ausstellung „sites & sounds“ in der gkg bonn (Gesellschaft für Kunst und Gestaltung) gezeigt. Diese liefert einen hervorragenden Querschnitt über die weltweit beschritten Wege von Klangkunst im öffentlichen Raum.
Stefan Rummel ist (wie Sam Auinger im Jahr 2010) einer der beiden diesjährigen „Stadtklangkünstler“, der in seinen Inszenierungen die spezifischen geografischen Gegebenheiten klanglich erfahrbar machen will. Wenn ein großer Fluss eine Großstadt durchschneidet, hat dies naturgemäß etwas Begrenzendes, Abgrenzendes. Zwei Klanginstallationen sind an den Ufern gegenübergestellt. In einem begehbaren Resonator werden die Klänge vom Fluss und idealerweise vom fernen anderen Ufer „herangeholt“, aufgefangen und mit anderen zugespielten Klang-ereignissen angereichert. In einer Felsmauer am anderen Ufer passiert Ähnliches. Der Bezug, die imaginäre Verbindung soll hörbar gemacht werden.
Der andere Stadtklangkünstler ist der Brite Max Eastley. Dieser hat sich sehr Poetisches einfallen lassen, um die Aura des idyllischen Botanischen Gartens im Stadtteil Poppelsdorf zu bespielen. Mitten in den Teichanlagen des Gartens sind die Masten seiner Windharfe postiert. An ihnen befinden sich Metallbögen, auf denen Saiten gespannt sind. Unberechenbar sind die Momente, in denen singende Sphärenklänge den Park erfüllen, denn einzig der Wind bringt die Saiten zum Klingen, eben eine „unsichtbare Energie, die nur durch Interaktion mit der materiellen Welt Wirkung entfaltet.“ Diese Windgesänge spielen sogar symbolisch auf die wohl wichtigste historische Bonner Figur schlechthin an – nämlich auf Ludwig van Beethoven, dessen Mondscheinsonate möglicherweise durch die äolische Harfe (also ein uraltes mystisches Windinstrument) inspiriert wurde.
Auch wenn man sich in vielen Installationen so weit wie möglich vom Aspekt der „Musik“ entfernt, so kam diese doch wieder in verblüffender Direktheit ins Spiel – nämlich in einer Konzertperformance im alternativen Ambiente der „Fabrik 45“. Akio Suzuki und Aki Onda versanken bei ihrem Duoauftritt in eine tiefe Trance, als sie feine Texturen entwickelten und über diese in extrem bezwingender Logik zu improvisieren wussten. Beide Spieler brachten ganz viele „analoge“ Ins-trumente ins Spiel: Holzteile, Nägel, Hämmer, Metallplatten oder einen alten Kassetten-Walkman. Sehr klug und treffsicher sorgten stationäre Borduns oder durchlaufende Zweitonmotive für stringenten Zusammenhalt. Wenn einer der beiden rhythmisch ein Gummielement quietschen ließ, passierte dies so treffsicher wie die solistischen Höhepunkte in einer guten Freejazz-Improvisation.
Noch viel mehr stand auf der Agenda dieses Festivals: Der spektakuläre Höhepunkt war wohl die „stadtsinfonie bonn“, bei der mehr als ein Dutzend Ensembles inklusive einiger Chöre und allein sieben Schlagzeuggruppen mitwirkten. Musiker und Publikum bewegten sich vom Münsterplatz in die Fußgängerzone und von dort weiter zur Aussichtsterasse „Alter Zoll“ und zum Rheinufer. Dabei vereinten sich Werke von Charles Ives, Wolfgang Mitterer und Alvin Curran zu einem Konzertereignis, das die Grenzen des Konzertsaales sprengen sollte, um die Stadt-landschaft und das Konzertereignis wieder in einen freien Diskurs miteinander zu bringen.