Stuttgart 21: Das wäre schön, wenn’s schon den Bahnhof gäbe. Dann wäre man einundzwanzig Minuten schneller in Ulm. Wozu? Stuttgarts eigene Zukunft ist schon längst Realität: in der Musik. Da liegt man ziemlich weit vorn. Mit dem Éclat-Festival im Frühjahr, das den etablierten Neue-Musik-Festivals à la Donaueschingen oder Witten starke Konkurrenz macht. Mit dem SWR Vokalensemble, dessen Engagement für die Musica Nova beispielhaft genannt werden darf. Mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, das sich immer wieder für die Moderne einsetzt, etwas im Schatten natürlich der Donaueschingen-Player, dem Radio-Sinfonieorchester Baden-Baden/Freiburg.
Wohl der Rundfunkanstalt, die zwei der besten Avantgarde-Orchester in ihrem Besitz weiß. Das garantiert Lebendigkeit, Zukunft, geistig-sinnliche Abenteuer. Und auch Stuttgarts Oper möchte man nicht vergessen. Klaus Zeheleins Ära ist zwar Geschichte, aber so schlecht, wie Albrecht Puhlmanns Direktion manchmal eingestuft wird, ist diese auch nicht. Auch wenn man dem Musiktheater-Forum auf dem Römer-Kastell, eine der wichtigsten Initiativen Zeheleins, immer noch nachtrauert. Vielleicht findet sich ja doch irgendwann einmal ein geistiger und finanzstarker Investor, der die Forum-Idee wiederbelebt. Darf man dabei an Jossie Wieler, Sergio Morabito und Sylvain Cambreling denken, dem kommenden Leitungsteam der Stuttgarter Oper?
Im Stuttgarter Sender hält inzwischen Hans-Peter Jahn die Fahne der Neuen Musik hoch – was in Zeiten des allgemeinen Entertainments nicht immer so ganz einfach ist. Früher verteilte man Konzerte mit Neuer Musik auf mehrere Wochen oder sogar Monate, jetzt fasst man alles an einem Tag zusammen. Und damit alles den richtigen Aufreißer besitzt, nennt man die Tagesveranstaltung kurz „attacca“ – die Attacke für die Neue Musik und wider deren Widersacher. Unterstützt wird der Rundfunk dabei von dem Verein „Musik der Jahrhunderte“, der auch das Éclat-Festival veranstaltet. Die Konzerte finden in der Regel im Theaterhaus auf dem Pragsattel statt, ein sowohl atmosphärisch als auch in der Praktikabilität ideales altes Gebäude, dessen viele Räume ein vielfältiges Programm ermöglichen.
Das diesjährige „attacca“-Festival“ wählte sich mit Luigi Nono einen signifikanten Namenspatron als Leitfigur. Zwanzig Jahre ist der italienische Komponist nun schon tot, aber seine Nachwirkung auf jüngere Komponisten ist ungebrochen. Nonos „Prometeo“, eine „Tragödie des Hörens“, erfuhr 1994 bei den Salzburger Festspielen eine denkwürdige, maßstabsetzende Aufführung, die bei den nächsten Festspielen im Sommer 2011 ein Remake erfahren wird. Damals hat der Filmemacher Norbert Beilharz Umfeld und Aufführung des „Prometeo“ in Salzburg in einem Film dokumentiert, nicht nur eine verdienstvolle, sondern auch großartig gelungene Dokumentation. Beilharz’ Sensibilität, sein „Feeling“ für musikalische Ausdruckswerte, geben seinen Musikfilmen immer wieder ein eigenes Gepräge, eine eigene Qualität. Davon zeugte in Stuttgart auch ein Ausschnitt aus Beilharz’ „Rosamunde“-Film zur Musik Franz Schuberts für das „Romantische Schauspiel“ von Helmina von Chézy.
Das „Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv, das Changieren zwischen Nähe und Distanz, zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ -- so bezeichnete Hans-Peter Jahn die Programmlinie der „attacca“-Konzerte. Wolfgang Rihms 1993 entstandene Komposition „von weit“, die „Antlitz“-Version für Violoncello und Klavier „umschrieben“, thematisiert das Verhältnis zwischen „Nähe und Distanz“ – Rihm nähert sich mit musikalischen Ausdrucksmitteln einem Künstler, dem er sich eng verbunden fühlt, dem Maler Kurt Kocherscheidt. Nicolas Altstaedt (Violoncello) und Henri Sigfridsson (Klavier) spielten Rihms Werk mit der nötigen, überzeugenden Plastizität. Zwei Uraufführungen steuerte das SWR Vokalensemble unter der Leitung von Marcus Creed bei: Misato Mochizukis „Halai-Musubi“ für Chor a cappella und von Tobias PM Schneid „XXI – Symphony no. 3“ für 28 Vokalsolisten. Misato Mochizukis Komposition, der Titel bedeutet „Reinigung“ und „Knoten“, changiert geschickt zwischen hellen und dunklen Klangfarben, zwischen Passagen der Stille und lautem Rattern, die sich „verknoten“ und wieder auflösen. Eine existentielle Perspektive ist unverkennbar und hebt das Werk über das reine Erklingen hinaus. Seelische Perspektiven öffnet auch Tobias PM Schneids „XXI“ für Vokalsolisten. Textpartikel aus dem Requiem werden in einen Verschmelzungsprozess eingeführt. Der Chor erzeugt einen Klangreichtum, der das fehlende Orchester quasi miteinbezieht. Schneids Komposition erreicht eine ungewöhnlich große Raumwirkung.
Ähnlich wirkte Jörg Widmanns „Messe“ für großes Orchester aus dem Jahr 2005, das hier nach der Münchner Premiere bei den Philharmonikern seine zweite Aufführung erfuhr. Widmanns „Orches-trierung“ der Text-Inhalte verrät eine souveräne Klanggestaltung, das perfekte Umsetzen der aus dem Text abgeleiteten Gesten und Stimmungen in Klang, in Musik. Man kann Parallelen zu Hans Werner Henzes „Requiem“ ziehen, das auch nur für Orchester gesetzt ist, gleichwohl in den Klangfarben und Klangbewegungen sehr genau den Grundton des Requiems trifft. Das interpretatorische Niveau war bei allen Werken, wie gewohnt, sehr hoch. Das SWR Vokalensemble bot bei Mochizuki und Schneid Perfektion pur, das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart exzellierte bei Widmanns „Messe“, bei György Kurtágs „Stele“ (op. 33) sowie bei der Uraufführung von Johannes Kalitzkes Orchesterstück „Monumente im Halbdunkel“.
Kalitzke, der das Orchester auch dirigierte, reflektiert in seiner Komposition unsere Adaption des klassischen Musikerbes. Können wir eigentlich noch nachvollziehen, was die früheren Komponisten eigentlich zum Ausdruck bringen wollten? Gibt es nicht Abschleifprozesse, die durch ständige Repetition das Ausdrucksprofil eines Musikwerkes gleichsam ins Gegenteil verkehrt haben? Und was könnte man dagegen unternehmen? Kalitzke führt als „steinerne Monumente“ kurze musikalische Sequenzen an Schumann und an frühe Musik der Renaissance an, die im Verlauf der Aufführung immer wieder kaleidoskopisch ver- und übereinandergeschoben erscheinen. Kalitzke glaubt, dass unsere musikalische Vergangenheitsbewältigung die Rätsel nicht lösen kann. Alles bleibt im Halbdunkel. Gleichwohl: „Monumente im Halbdunkel“ ist ein sehr dicht komponiertes, ausdrucksmächtiges Stück Musik. Gleichsam im hellsten Licht.