Ein Plakat fast überall in Linz und fast von Andy Wahrhol: viel hellblauer Hintergrund, Gesicht und Hand des Mannes rosa, Augenbrauen und Mund hellblau, Brille und riesige Basstuba gelb. „kunstzug: eisenwind. Sonntag, 9. August, Abfahrt 12.45 Linz Hauptbahnhof Gleis 21“.
Fast alles wie im richtigen Leben. Bereits um 12 Uhr mittags ist der Zug rappelvoll. Dann wird alles ganz anders. Schaffner ziehen blockflötend durch die Abteile. Eine Schaffnerin verteilt echte Rückfahrkarten, eine andere Glitzerpuder auf den Gesichtern der Passagiere: „So können wir Sie nicht aussteigen lassen. A bissl aufhübschn für`s Fotoshooting muaß scho sei! Wer mag Glitzerpuder ins Gesicht?“ Schauspielschülerinnen in Uniform, wie sich später herausstellt. Nach fünf Minuten der erste Halt am echten Bahnhof Leonding. Alles aussteigen. Die Stadtkapelle Leonding begrüßt die 250 Bahnreisenden mit traditioneller Blasmusik, es gibt Eis und Getränke. Alles umsonst und draußen.
Auf der Verladerampe eines Gebäudes beginnen zwei Männer eine Unterhaltung, die keiner versteht, weil nur „Zwischenlaute“ der Sprache benutzt werden. Es geht um einen drehbaren Leuchtturm, aufgeschichtet aus Parkett-Abfallholz, verklebt mit Reststücken von Stoffnetzen. Ein Kunstobjekt, das in jeder Ausstellung über Räumlich-Architektonisches stehen könnte. Gemacht von einem Menschen mit psychischer Behinderung. Allmählich werden Bade- und Strandszenen lebendig. Der Blaskapellen-Reggae sagt uns, dass wir Leonding längst in Richtung Karibik verlassen haben.
In immer neuen Szenen wird gestritten, geblödelt, gehobener Nonsens produziert. Wir, die Zuschauer, stehen herum oder sitzen auf den Gleisen, was sich leicht gruselig und etwas verboten anfühlt. Und wir sind Teil der Aufführung „Die Türme – clowneske Musikperformance“. Das Theater Malaria ist in seinem Element. Es existiert seit 2002 im Evangelischen Diakoniewerk Gallneukirchen. Der professionellen künstlerischen und pädagogischen Leitung von Iris Hanousek-Mader gelingt es, allen Menschen – mit und ohne Behinderung – eine Rolle zu geben, die jede Person zeigt, aber nicht vorführt. Das ist derzeit das größte Lob, das in der künstlerischen Arbeit mit Menschen mit Behinderung zu vergeben ist.
Weiter geht es nach Alkoven. Jetzt wird klar, wofür wir geschminkt wurden: Wer möchte, kann sich im schönen altmodischen Bahnhof von Alkoven zusammen mit einem Menschen mit Behinderung im Doppelportrait fotografieren lassen. Schnappschuss heißt dieses Projekt des integrativen Theaters Kraud&Ruam. Welch historischer Wandel: Schloss Hartheim – Alkoven ist der dazugehörige Bahnanschluss – war die Vernichtungsanstalt „unwerten Lebens“ in der Zeit des Nationalsozialismus. Jetzt entsteht hier eine Dokumentation über das Fest des Lebens. Ein Fotoband mit all den Polaroids wird bald erscheinen.
Die LILO, die Linzer Lokalbahn, bringt uns durch die wahrhaft blühende oberösterreichische Landschaft weiter nach Eferding. Hier erwartet uns das TanzKollektivKuK mit „Tracks“. Kurze getanzte Szenen von Warten, Ankommen, Weitergehen. Verschiedene Orte des kleinen Bahnhofs werden zum „Tanzboden“: der Bahnsteig, der Bahnhofvorplatz, eine Rampe. Das Publikum wandert den Tänzerinnen nach. Auch die Musikanlage wird den Tänzerinnen auf einem Anhängerwagen nachgefahren. Eine schöne Idee: Die Musik läuft hinterher …
Um 15.45 Uhr wird’s ernst in Prambachkirchen: Die Anfangssequenz aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ wird zur neu inszenierten Realität. Mit Bösewichten und unglaublich szenegerecht wieherndem Pferd. Den Abschluss der Fahrt bildet dann ein großes Fest in Peuerbach. Mit Blasmusik geht es vom Bahnhof zum Institut St. Pius, in dem eine Woche lang in künstlerischen Workshops integrativ und international gearbeitet worden war. Es ist Wahlkampf, und der Landeshauptmann Pühringer von der ÖVP macht Politik. Auch wenn einem die Richtung nicht passen mag – er sagt Richtiges über die Notwendigkeit von Integration und Förderung von Kulturarbeit von und mit Menschen mit Behinderung. Und er hat das Gesamtprojekt sicht:wechsel kräftig gefördert.
Die Rückfahrt nach Linz bringt schönstes sommerliches Abendlicht und heiße Diskussionen: Wie kann man die Qualität kultureller Projekte mit Menschen mit Behinderung beschreiben? Wieviel muss man über die Menschen mit Behinderung und ihre Kompetenzen wissen, um zu einem fundierten Urteil über die künstlerische Leistung zu kommen – oder muss man gar nichts wissen und nur das Ergebnis betrachten? Verschwindet Behinderung in oder hinter der Kunst – oder braucht man eine solche Frage gar nicht zu stellen? Welche Kunst- und Musikformen sind für die künstlerische Arbeit mit Menschen mit Behinderung besonders geeignet?
Die Kulturhauptstadt Linz 09 feiert unter dem Stichwort sicht:wechsel in vier Phasen die Verschiedenheit von Menschen. Drei der Phasen sind – leider – vorbei. „sicht:wechsel tanzt“ brachte im Januar 2009 internationale Tanzkunst und Choreografie nach Linz, „sicht:wechsel spielt“ war ein internationales Theaterfestival im April und jetzt, im August, war der „kunstzug: eisenwind“ der Abschluss einer arbeitsreichen Workshopwoche.
Wie gut, dass noch eine Phase folgt: Am 19. und 20. November 2009 rundet ein internationales interdisziplinäres Kunstsymposium das Großprojekt sicht:wechsel 09 ab. Ruhr 2010 wird sich ganz schön anstrengen müssen, will es die Kreativität der Sichtwechselmacher, allen voran die der künstlerischen Leiterin Elisabeth Braun und des organisatorischen Leiters Alfred Rauch erreichen. Das Größte war sicher, die vielen beteiligten Einrichtungen und Organisationen unter einen Hut zu bringen. Chapeau!