Als Gerard Mortier und Hans Landesmann 2001 zum letzten Mal die Salzburger Festspiele leiteten, konnten sie mit berechtigtem Stolz zurückblicken: In zehn Sommern war es ihnen gelungen, die Festspiele aus dem Ruch des Nur-Kulinarischen, Eleganten, Repräsentativen zu lösen und dem Programm ein entschieden modernes Profil zu verleihen. Vor allem Landesmann setzte als Konzertreferent wichtige Akzente, und da er im Dreierdirektorium zugleich die Geschäftsführung übernommen hatte, stand es auch um die Finanzierung der neuen Initiativen günstig. Landesmann zeigte auch keine Berührungsängste, als er das Salzburger „Zeitfluss“-Festival in die Festspiele einband. Dieses wurde damals unter anderem von Markus Hinterhäuser geführt, einem avancierten Pianisten der Moderne, der auch ein glänzender Organisator sein konnte. Die grandiose Aufführung von Luigi Nonos „Prometeo“ in der Salzburger Kollegienkirche überstrahlte damals sogar alles, was im Großen Festspielhaus an Oper und philharmonischem Konzert geboten wurde.
Die Nachfolger im Direktorium wollten glücklicherweise nicht hinter diese programmatische Vorlage zurückfallen. Peter Ruzicka und Jürgen Flimm setzten die einmal eingeschlagene Linie mit eigenen Ideen konsequent fort, wobei Flimm mit dem Konzertreferenten Markus Hinterhäuser das große Los zog: „Salzburg modern“ blieb ein Markenzeichen auch für das „Große Festspiel“, zumal Hinterhäuser 2011 auch noch interimis-tisch die Intendanz für Flimm übernahm. Im fernen Wien aber hatte sich Hans Landesmann keinesfalls zur Ruhe gesetzt. Salzburg ließ ihn nicht los. Musste dieser mit Mozart-Musik durchtränkte Ort nicht auch ein Festival der Neuen Musik besitzen? Das Ergebnis der Überlegungen und Pläne war 2009 die erste „Salzburg Biennale“, und da man gerade so schön in Schwung gekommen war, wurde schnell auch noch von Land und Stadt ein mit achtzigtausend Euro dotierter „Salzburger Musikpreis“ gestiftet, der alle zwei Jahre jeweils bei der Biennale an die Ausgezeichneten überreicht wird. So erhielt die Biennale ihren festlich-feierlichen Mittelpunkt und die Preisträger einen passenden Rahmen für die Präsentation ihrer Kompositionen. Nach Salvatore Sciarrino, Klaus Huber und Friedrich Cerha ging der diesjährige Hauptpreis mit sechzigtausend Euro an den österreichischen Komponisten Georg Friedrich Haas, der Förderpreis (20.000 Euro) an den Italiener Aureliano Cattaneo.
Der zweite Blick
Das Preisträgerkonzert selbst war sinnstiftend in das Gesamtprogramm der Biennale integriert. Die Biennale ist kein reines Uraufführungsfestival wie Donaueschingen oder Wittens Kammermusiktage. Das bedeutet keinen Nachteil, im Gegenteil: viele neue Stücke, die oft nur ihre Uraufführung erleben, können auf Veranstaltungen wie Salzburgs Biennale oder bei Berlins „Ultraschall“ einer neuen Prüfung unterzogen werden: Bestätigt sich der erste Eindruck? Oder zeigen sich ganz unerwartete Perspektiven bei der zweiten Begegnung? Aber auch Werke der sogenannten „klassischen Moderne“ präsentieren sich oft in einem anderen, neuen Licht. Manches wirkt unverändert stark auch nach Jahrzehnten noch, anderes, was man als stark in Erinnerung hatte, mutet dagegen irgendwie „historisch“ an, man versteht die einstige Aufregung, aber sie regt einen nicht mehr besonders auf. Und dann gibt es noch eine irgendwie geheimnisvolle Verwandlung: Musik, die man einst bei ihrem ersten Erklingen als kompliziert, spröde, schwer durchschaubar empfand, entfaltet plötzlich sinnliche Qualitäten, eine expressive Unmittelbarkeit. Das liegt auch an den Interpretationen. Ein Musiker, ein Ensemble, die ein Werk öfter und immer wieder spielen, gewinnen dadurch eine größere Souveränität im Umgang mit der Musik, sie wirken freier in der Gestaltung, der übergreifenden Formung. Alles wird transparenter, das Schwierige scheinbar leichter.
Das war bei dieser dritten Biennale mehrfach zu konstatieren. Heike Hoffmann, die zum zweiten Mal das Programm konzipierte, stand vor der Aufgabe, für die drei langen Wochenenden im März einerseits für Schwerpunkte zu sorgen, andererseits aber auch für Abwechslung, wobei sie bei allem auch auf ihren eher schmalen Etat zu achten hatte. Fünf Komplexe präsentierten sich in meist durchmischten Konzerten und szenischen Darstellungen. Unter dem Stichwort „Zoom“ richtete sich der vergrößernde Blick auf die Komponisten Rebecca Saunders und Vinko Globokar. Vier Pianisten und ein Piano-Duo widmeten sich im „Focus Klavier“ vornehmlich der Klaviermusik des 20.und 21. Jahrhunderts, im „Szenenwechsel“ sah und hörte man einen „bunten Reigen“ aus Musiktheater, Tanz und Performance, „Palimpsest“ war das Nachdenken über „Musik über Musik“ überschrieben – Rainer Peters hatte dazu einen informativen, kenntnisreichen Aufsatz im inhaltsreichen Programmbuch geschrieben. Den letzten Komplex bildete das schon erwähnte Preisträgerkonzert.
Musiktheater-Experimente
Bemerkenswert häufig beschäftigen sich seit einiger Zeit Festivals der neuen Musik mit dem Musiktheater. Das Szenische zieht sie magisch an – Hans-Peter Jahn hat das in vielen Jahren bei seinem „Éclat“-Festival Stuttgart mus-tergültig vorgemacht auf seiner Suche nach neuen Formen für das, was man früher Oper nannte. Bei der Biennale erlebte man jetzt gleich ein halbes Dutzend musiktheatralischer Experimente. Helmuth Oehring war mit seinem erst kürzlich in Berlin uraufgeführten neuen Stück nach Thomas Bernhards Roman „Kalkwerk“ nach Salzburg eingeladen. Der Zufall wollte es, dass am Aufführungstag zugleich an der Düsseldorfer Rheinoper Oehrings noch neueres Werk seine Premiere erlebte: „SehnSuchtMeer oder vom Fliegenden Holländer“, eine Variation und Interpretation der frühen Wagner-Oper auf ein Libretto Stefanie Wördemanns mit Texten von Heinrich Heine, Richard Wagner, Mathilde Wesendonck, Hans-Christian Andersen und Helmut Oehring. Über beide Aufführungen wird gesondert in der nächsten Ausgabe der neuen musikzeitung berichtet.
Die neun „Szenenwechsel“ der diesjährigen Biennale demonstrierten eindrucksvoll die Vielfalt dessen, was man unter „Musiktheater“ subsumieren kann. Lucia Ronchetti verwandelt Francesco Cavallis bekannte Oper „Il Giasone“ in „Lezioni di tenebra“ (Lektionen der Finsternis). Lucia Ronchetti reduziert Cavallis umfangreiches Personal auf zwei Sänger, die beide diverse Rollencharaktere übernehmen: der Countertenor (eindringlich Daniel Gloger) ist Giasone, Oreste und Isifile, die Sopranistin Katia Guedes übernimmt die „wilden“ Temperamente: Medea, Egeo, Demo. Lucia Ronchetti richtet ihren Blick vornehmlich auf die inneren Zustände der dramatis personae, setzt dazu Cavallis Musik in Auswahl und emotionaler Zielrichtung sehr präzise ein, wobei auch der entsprechende Text gleichsam musikalisiert erscheint, als Klangmaterial. Das ist alles sehr dicht und überzeugend komponiert. Der Liebeswahnsinn der Protagonistin Medea und Jason wird in die „Finsternis“ projiziert – die „Nacht der Liebe“, in die Tristan und Isolde bei Wagner versinken, kündigt sich schon bei Cavalli an und wird von Lucia Ronchetti aus dem Dunkel in ein verrätseltes Licht gehoben. Eine bildstarke Inszenierung (Regie: Matthias Rebstock, Bühne: Mirella Weingarten), ein hohes musikalisches und gesangliches Niveau (das PMCE Parco della Musica Contemporanea Ensemble unter Tonino Battista, der Vocalconsort Berlin) hinterließen einen zwingenden Eindruck.
Noch zwei weitere „Szenenwechsel“ ragten hervor: Eine interaktive Konzert-Installation für Solovioline, Videos und Live-Elektronik trägt den Titel „Black Mirrors – Hommage a Paradis“. Claudia Rohrmoser (Videos und Licht), Gerhard E. Winkler (Komposition, Live-Elektronik) und die Geigerin Annelie Gahl entwickelten aus dem Schicksal der blinden Komponistin und Pianistin Maria Theresia Paradis, die durch einen Wunderheiler partiell ihre Sehkraft gewann, eine Studie zum Thema Hören, Musizieren, Wirklichkeitserfahrung --- wie wirkt sich diese existentielle Veränderung auf die Psyche eines Menschen aus? Als „Schwarz gefärbte Spiegel“, die früher die Welt freundlicher als in der Wirklichkeit abbildeten, dienen auf der Szene Videoleinwände, zwischen denen die Geigerin real oder in Schattenrissen erscheint. Winkler steuerte dazu eine hochkomplexe und hochdifferenzierte elektronische Klangpartitur bei, in der auch verzerrte oder überschriebene Zitate von Biber, Beethoven, Gesualdo und aus Maria Theresia Paradis „Reiseliedern“ aufscheinen. Das alles fließt zu einer suggestiven, von innen gespannten Einheit zusammen. Eine zwingende Produktion. Und dann war da noch der „Parcours“ von Georges Aperghis, arrangiert und gespielt auf den Musikmaschinen von Claudine Brahem von dem Percussionisten Jean-Pierre Drouet. Ein entfesseltes komödiantisches Klang-Theater mit einem grandiosen Akteur. Beifallsstürme für Jean-Pierre Drouet.
Fast drei Dutzend Werke oder Produktionen standen auf dem Biennale-Programm. Was ragte hervor? Die Wiederbegegnung mit Vinko Globokars „Laboratorium“ nach drei Jahrzehnten: das Publikum wandert zwischen den einzelnen Musikergruppen herum, der Musiker ist aus dem Kollektiv (der Masse) befreit. Ein Lieblingsthema des Komponisten – damals. Aber lebendig ist das als Aktion immer noch – siehe das Foto auf der ersten Seite. Rebecca Saunders hatte im Karl-Böhm-Foyer des Festspielhauses ihre x-te „Chroma“-Version installiert – die totale Raummusik strahlt unverändert ihre Faszination aus: ein vitales Klangtheater. Über den Komponisten Georg-Friedrich Haas, der im August sechzig Jahre alt wird, werden wir ausführlich nach der Uraufführung seiner neuen Oper in Schwetzingen berichten. Bewegend auch, als Vinko Globokar seinen „Eisenberg“ für 16 Musiker mit dem Österreichischen Ensemble für Neue Musik selbst dirigierte. Zuvor erklangen im selben Konzert Werke von Klaus Ager, Elena Mendoza und Mat-thias Spahlingers „gegen unendlich“ für Bassklarintte, Posaune, Violoncello und Klavier. Die „Grenzen der Wahrnehmung“ in diesem Stück werden allerdings übersprungen, wenn das Leid so plastisch artikuliert wird wie vom „oenm“ unter Manuel Nawri.
Und der „Focus Klavier“? Prominenter und kompetenter geht es kaum: Nicolas Hodges, Fredrik Ullen, Marino Formenti, das GrauSchumacher Piano Duo exzellierten in wichtigen Kompositionen der Neuen Musik. Und der Höhepunkt: Stephen Drury mit Frederic Rzewskis „ 36 Variationen on The People United Will Never be Defeated“, das chilenische Protestlied gegen den Umsturz der demokratisch-sozialistischen Regierung des Landes, komponiert von einem US-Amerikaner. Rzewski presste Zwölfton, Jazz, MinimalMusic, FolkMusic und anderes mehr in eine technisch hochkomplizierte Struktur. Stephen Drury aber durchstürmte die Variationen mit einer pianistischen Überlegenheit, dass es den Zuhörern den Atem verschlug.
Und zum großen Finale noch ein Höhepunkt: das Ensemble Modern Orchestra kam mit zwei großen Werken der Neuen Musik zur Biennale: mit Helmut Lachenmanns „Accanto“, einer „Musik für einen Klarinettisten und Orchester sowie mit Hans Zenders „33 Veränderungen über 33 Veränderungen“, eine – wie Zender es nennt – „komponierte Interpretation“ über Beethovens Diabelli-Variationen. Beide Werke erfuhren durch die Brillanz der Wiedergaben unter dem kompetenten Dirigenten Peter Hirsch fast so etwas wie eine zweite Uraufführung.
Besser geht’s nimmer. Bei der Biennale standen auch die Interpreten auf höchstem Niveau. So sollte es weitergehen.