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Die Zeit als Anschlag auf das Leben

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Das Festival MaerzMusik wendet sich nach innen – „Nach Berlin!“
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Musikalisch mag Mark Andre, Chico Mello, Rebecca Saunders und Samir Odeh-Tamimi nicht viel verbinden. Eines haben sie aber gemein: Sie sind „Berlin-Immigranten“. Warum denn in die Ferne schweifen? – dachte sich der künstlerische Leiter der Berliner MaerzMusik Matthias Osterwold für die letzte Festivalausgabe unter seiner Ägide, und widmet sie der Musikszene vor der eigenen Haustür. „Nach Berlin! Nach Berlin“ lautet das Motto, unter dem die Hauptstadt als multinationale Drehscheibe innovativen Musikgeschehens betrachtet wird.

Berlins Anziehungskraft auf Künstler, insbesondere nach dem Mauerfall, ist leicht nachvollziehbar: Anders als in den meisten europäischen Metropolen erlaubten es allein schon die ökonomischen Gegebenheiten der neu zusammenwachsenden Stadt, künstlerisch von Grund auf etwas Neues aufzubauen, ohne sofort dem Druck massiver Alltagskosten zu erliegen – eine wichtige Voraussetzung für das unreglementierte und experimentierfreudige Klima, das sich in der internationalen Musikszene bald herumsprach. Wenn sich diese Situation in Berlin auch zunehmend verändert, so hat sich doch über die Jahre ein in seiner Vielfältigkeit schillerndes Netzwerk von Komponisten, Ensembles und Musikern gebildet, das sich wesentlich durch seine Offenheit gegenüber Neuankömmlingen auszeichnet.

Einer dieser Neuankömmlinge war vor fast 20 Jahren der Komponist und Schlagzeuger Michael Wertmüller. Um bei Dieter Schnebel an der Universität der Künste Komposition zu studieren, kam der Schweizer 1995 nach Berlin und blieb. Wertmüllers unkonventionelles Verständnis von Musikmachen spiegelt auf besondere Weise das freiheitliche Denken, von dem die Berliner Musikszene lebt. Wenige Musiker haben die Schrankenlosigkeit der Stile und Genres so definitiv für sich aufgelöst wie er. So tauchte er schon in nahezu allen Sparten der Berliner Festspiele auf, ob als Komponist bei der MaerzMusik, als Schlagzeuger im Trio mit Peter Brötzmann beim Jazzfest oder in Doppelfunktion bei einer Schlingensief-Produktion des Theatertreffens.

Bei MaerzMusik 2014 steht Michael Wertmüller als symphonischer und als musikdramatischer Komponist auf dem Programm. Im Mittelpunkt beider Werke steht für ihn die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Zeit. Sein Konzert für Klavier/Orgel und Orchester „Zeitkugel“, dessen revidierte Fassung der Solist Dominik Blum mit dem Konzerthausorchester unter der Leitung von Peter Rundel uraufführen wird, bezieht sich auf Bernd Alois Zimmermanns Vorstellung der Zeit als Kugelgestalt.

Den zentralen Gedanken seines Musiktheaters „Anschlag“ formuliert Wertmüller wiederum so: „Die Zeit war schon immer ein Anschlag auf das Leben. Jede künstlerische Ambition ein Anschlag auf die scheinbare Aussichtslosigkeit, sich dem Zeitstrom entgegenzustellen.“ Das Aufbegehren am Körper, das den preisgekrönten Schweizer Autor Lukas Bärfuss im Libretto beschäftigt, findet hier in der Musik ein Abbild: Sich durch den physischen Akt des Spielens über die Grenzen des Möglichen hinaus in einen Ausnahmezustand zu befördern, ist in Wertmüllers rhythmisch hochkomplexen Schichtungen angelegt.

Dem Musiktheater bietet die MaerzMusik 2014 viel Raum: Neben Wertmüllers „Anschlag“ kommen auch Enno Poppes „IQ“ und Mela Meierhans’ „Shiva for Anne“ zur Aufführung. Als das Haus der Berliner Festspiele umgebaut wurde, breitete sich das Festival über die verschiedensten Spielorte der Stadt aus. Die Tugend, die aus dieser Not geboren wurde, behielt Osterwold auch nach der Wiedereröffnung des „Stammhauses“ bei. Beim diesjährigen Lokalfokus kommt der Magie besonderer Spielstätten Berlins eine ganz eigene Bedeutung zu. Während etwa das Berghain auch für andere Festivals Neuer Musik wie in der freien Szene längst zu einem beliebten Veranstaltungsort avanciert ist, erschließt MaerzMusik 2014 dem Neue-Musik-Publikum weitere unentdeckte Orte der Stadt, etwa die Fahrbereitschaft in Lichtenberg, oder die Paul-Gerhardt-Kirche in Schöneberg aus dem Jahr 1964, in der Makiko Nishikazes Konzertinstallation „morepianos I, II“ uraufgeführt wird.

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