Lang ist die Reihe der 1845 maßgeblich durch Franz Liszt ins Leben gerufen Beethovenfeste in der Geburtsstadt des Komponisten. Sie ist reich an Höhepunkten, immer wieder gekennzeichnet aber auch von wenig ruhmreichen Strecken. Zwischenzeitlich wurde das Projekt abgeschrieben und abgeschafft, dann aber zur Jahrtausendwende wieder auferweckt von den Toten.
Im neuen Jahrhundert präsentierte es mit der Programmierung von Ilona Schmiel, die im Wesentlichen dem Mainstream der Philharmonie-Betreiber und regional-flächendeckend angelegten Festivals folgte, einen respektablen Querschnitt dessen, was die mehr oder weniger angesagten „üblichen Verdächtigen“ des Klassik-Musikbetriebs zwischen Schleswig-Holstein und Luzern, Salzburg und Lockenhaus auf der Pfanne haben. Diese Ein- und Verkaufs-Politik schlug auch im vergangenen Jahr noch durch, als bereits Nike Wagner das Zepter übernommen hatte – in einer kulturpolitischen Situation, die nicht gerade auf Rosen gebettet ist.
Jetzt am Wochenende, an dem in Frankfurt überbordend der 25. Jahrestag der deutschen Vereinigung gefeiert wurde, ging in Bonn auch das erste von Prof. Dr. Wagner durchgestaltete Beethovenfest zu Ende – mit drei Konzerten, die noch einmal im Kurzdurchgang die Bandbreite des Gesamtprogramms rekapitulierten. Anima Eterna Brugge, angeleitet vom Hammerklavierspieler Jos van Immerseel, tauchte in der Beethovenhalle mit Schuberts „Zauberharfen“-Vorspiel, einer raren Onslow-Symphonie und Beethovens „Pastorale“ tief und wohlinformiert ins frühe 19. Jahrhundert. Am selben Ort setzten Juraj ValĨuha und die Bamberger Symphoniker tags darauf mit der „Eroica“ den musikalisch-konventionell gehaltenen Schlusspunkt. Sie erinnerten mit dem von Arabella Steinbacher bestrittenen Violinkonzert Erich Wolfgang Korngolds aber auch an Wiener Musik, die sich im 20. Jahrhundert ins Exil verflüchtigen musste – und mit Mauricio Kagels „Variationen ohne Fuge über ‚Variationen und Fuge‘ über ein Thema von Händel für Klavier op. 24 von Johannes Brahms“ an die auch schon zuvor und auch danach wieder mitunter sehr verschlungenen Pfade der Rezeptionsgeschichte des „klassisch-romantischen Erbes“ (beides waren auch Festivalkonzerte der in Bonn ansässigen Deutschen Welle).
Für einen der allenthalben bei multifunktionalen Festivals längst üblichen Kontraste sorgte kurz vor Torschluss in der Rhein-Sieg-Halle die Jan Garbarek Group mit Rainer Brüninghaus am Piano (gefördert von der Kreissparkasse). Da fand wohlerprobter „expressiver Ausbruch“ statt – mit jener guten Führung des Melodieinstruments, für die die neudeutsche Rezensionspoesie Vokabeln wie „amberfarbener Gesangston“ bereithält und ein „fabelhaft!“ (mit Ausrufezeichen!) nachkippt. Weiter so!
Während 1949 mit der Gründung des westdeutschen Separatstaates in Bonn die kleine Residenzstadt am Niederrhein durch die Entscheidung Konrad Adenauers der großen alten Reichsstadt am Main die Hauptstadtfunktion vor der Nase wegschnappte, hatten zuletzt die feierlustigen Frankfurter mit Heerscharen von Gästen die Köpfe oben. Die Vereinigungsfolgen haben sich in Bonn weniger günstig ausgewirkt. D.h. vor allem: Trotz teilweise respektabler oder guter „Auslastungsquoten“ ist Kultur in Bonn seit langem nicht annähernd so publikumswirksam und medienmagnetisch. Der Leuchtturm hat sich abgeschaltet. „Eigentlich müsste es Bonn gut gehen, weil es wohlhabende Einwohner und noch immer Unterstützung vom Bund als Ex-Hauptstadt hat“, diagnostizierte das Fach-Magazin Deutsche Bühne Anfang September und machte den Krisenherd Nr.1 aus: „Die Bundesstadt, die das ‚haupt‘ verloren hat, bekommt ihre Finanzen nicht in den Griff. Und die Kultur soll dafür bluten.“ Freilich ist die Krise weitergehend eine der Zukunftsorientierung in einem von Vergangenheiten geprägten Milieu. Zuletzt ist der allzeit umstrittene (weil nicht nachweislich benötigte), unter verschiedenen Prämissen mehrfach neu aufgelegte Plan des Baus eines Beethoven-Festspielhauses wohl definitiv gescheitert – die Post/DHL-Group hat sich als Hauptsponsor endgültig abgemeldet. Ein derartiges finanzielles Großmachtwort können Bürgerinitiativen nicht aufwiegen.
In einer in Selbstwertgefühl und Außenwahrnehmung noch weiter absinkenden Stadt ein spezielles Kulturangebot und ein möglichst wieder weithin wirksames Stück Kulturpolitik machen zu wollen und zu müssen, gehört zu den Erblasten, als Nike Wagner dort als Chefin des Beethoven-Musikspektakels antrat. Dabei ist sie erfahren (d.h.: auch: leidgeprüft und gewitzt) durch ihre mehrjährige Leitungstätigkeit beim Kunstfest Weimar, dem sie mit dem vom Ururgroßvaters Franz Liszt adaptierten Titel „pélerinage“ einen neuen Stempel aufzudrücken verstand. Gerahmt von einer Lisztschen Klaviertranskription des ersten Satzes der ersten Beethoven-Symphonie, mit klar profilierten Register-Kontrasten gestaltet von Mariam Batsashvili, und dem selben Satz vorgetragen vom Beethoven-Orchester in Samstagmorgenkondition sowie einem nachgereichten Orchesterkommentar von Steffen Schleiermacher hielt die Intendantin und Geschäftsführerin eine sublime Grundsatzrede. Sie erläuterte nicht nur ihre Programm-Komponenten und die unterm Stichwort „Veränderungen“ gebündelten Leitlinien des Jahrgangs 2015, sondern auch ihre Verortung: Sie sei „in der Tradition angekommen“. Sie rühmte das Klavier, das Pionierinstrument des 19. Jahrhunderts, mit einem Bonmot des halb zur Verwandtschaft zählenden Hans von Bülow als „Ort der Verwandlung“ und verwies – unter Anspielung auf ihren Start in Bonn – auf den „dissonanten Beginn“ des Beethovenschen Opus 21 (wobei dieses Adagio molto gar nicht „dissonant“ komponiert, sondern von den Ohren der Zeitgenossen als auf ungesicherten harmonischen Boden gestellt wahrgenommen wurde). Nike Wagner rühmte ihre heutigen Sponsoren als Nachfolger der Feudalherren, ohne die Fallhöhe zu thematisieren und rief zum gemeinsamen Kampf „gegen kulturelle Wüstenbildung“ auf (ein Ruf, der bei denen, die bereits kräftig zur Versteppung beigetragen haben, gewiss auf offene Ohren stoßen dürfte).
Erkennbar verfolgt Wagner wie schon in Weimar auch in Bonn eine Doppelstrategie. Sie erfüllt mit der Verpflichtung vor allem von derzeit marktgängigen Solisten und Orchestern, unter denen sich freilich auch das eine oder andere „Extra“ befindet, Erwartungen einer Hörerschaft, deren Mitglieder in der drastischen Mehrzahl die Grenze zum Pensionsalter überschritten haben. Gerade in Bonn aber zeigte dieses Publikum sich in den besten Zeiten – den 70er und 80er Jahren – auch dem musikalisch Neuen gegenüber aufgeschlossen. Von daher setzt das Konzept auf eine kräftige Dosis von Musik des späten 20. und des 21. Jahrhunderts (das Sahnehäubchen: Die Uraufführung von Salvatore Sciarrinos „Quando ci risvegliamo“).
Zugleich mutet die Festival-Leiterin einen roten Faden für den Gesamtparcours zu: Diesmal den Variationsgedanken – und zuvorderst den exzessiven, wie er in den „Diabelli-Variationen“ zum Durchbruch gelangte. Es gehört, wie die Thomas Mann-Leser sich erinnern, zu den Volten der Musikgeschichte, dass das vom Komponisten und Verleger Anton Diabelli mit heiterem Geschäftssinn entwickelte Thema „zu Abenteuern und Schicksalen bestimmt“ war, „für die es in seiner idyllischen Unschuld keineswegs geboren scheint“.
Das von Daniel Barenboim und der Staatskapelle Berlin bestrittene Eröffnungskonzert rückte Arnold Schönbergs Variationen für Orchester op. 31 in die Mitte, Philippe Jordan und die Wiener Symphoniker steuerten Anton von Weberns Orchester-Variationen op. 30 bei. Aus den Dutzenden Veranstaltungen nur noch ein weiteres Beispiel: András Schiff lotete kühl-souverän einen großen Mikrokosmos von Variationsformen aus – von Haydn und Mozart über Mendelssohns „Variations sérieuses“ und Schumanns nachgelassenen „Geistervariationen“ bis zu Beethovens Variationen-Hauptwerk op. 120, das fortdauernd als „schwere Kost“ im Menü zu denken gibt. Ganz offensichtlich setzt sich ein solches klug disponierte Programm bei einem Teil des Publikums dem Verdacht aus, „intellektualistisch“ zu sein – es könne nicht für das erwartete „Herzklopfen“ sorgen. Aber wenn es denn Beethovens Errungenschaft war, „das Heiligste mit dem Harlequino“ zu vereinen, dann kommt es wohl heute bei Kunstanstrengungen, die diesen Namen verdienen, darauf an, das zuvorderst geforderte „Unterhaltsame“ nicht nur gegebenenfalls mit dem Heiligen zu verknüpfen, sondern auch mit dem Geist. Dass sie dies nicht nur proklamiert, sondern auch bis weit hinein die in die Details der Programme durchsetzt, gehört zu den singulären Leistungen von Nike Wagner.
Auch als Managerin ist sie Kulturtheoretikerin geblieben und erachtet Theorie auch auf dem Feld der Musik nicht nur für Allotria. Ob die BonnerInnen ihr dies danken werden, steht in den Sternen. Fraglich ist auch, ob so etwas wie der entwickelte Variationsgedanke – das Gebundensein „durch selbstbereiteten Ordnungszwang, also doch in höherem Sinne „frei“ (Thomas Mann) – als Rückgrat eines ganzen Festivalprogramms sich häufiger wiederholen lässt.