Fast alle Plätze in der Vorstellungsserie dieser Spielzeit sind ausverkauft: Mit dem Musicalstar Jan Ammann in der Titelpartie sowie dem Versprechen von Opulenz und schmerzlich schönen Wonneschauern lockt die Musikalische Komödie Leipzig zur deutschsprachigen Erstaufführung des Musicals „Doktor Schiwago“. Gefühl ist zwar sehr vieles, aber nicht alles: Die Musik von Lucy Simon erreicht leider nicht ganz die Höhe des gut gebauten Textbuchs von Michael Weller. Stilles Seufzen, lauter Applaus.
Es gibt verschiedene Perspektiven, aus denen man sich dem Musical nach einem weltliterarischen Stoff nähern kann. Aber es hat auch seine Gründe, dass das zwischen Schauspiel, Melodram und Musikdrama vagierende Hybridopus „Doktor Schiwago“ von Alfred Schnittke nach einer Tour über gehobene Gastspielbühnen vor zwanzig Jahren schnell verschwand. Boris Pasternaks erst in westlichen Staaten erschienener Roman ist mehr noch als Puschkins „Onegin“ eine „Enzyklopädie des russischen Lebens“. Die menschliche Verstrickung von fünf Schicksalen in Liebe, Entsagung, Hörigkeit, Hass und Verzweiflung ist die Folie vor einem extrem rauen Geschichtspanorama vom späten Zarismus in den Stalinismus.
Nach dem Tryout in Kalifornien (2006) sowie Produktionen in Sydney (2011) und am Broadway (2016) landete „Doctor Zhivago – A New Musical“ als deutschsprachige Erstaufführung in der Musikalischen Komödie Leipzig. Im Vorfeld wurden Taschentücher für den Besuch des mit über drei Stunden Spieldauer in diesem Genre schon wagnernden Werks empfohlen. Kenner werden das in großer Besetzung sein Bestes gebendes Orchester der Musikalischen Komödie lieben, das Christoph-Johannes Eichhorn mit hoher Kunstfertigkeit zu Höchstleistungen anspornt. Der Chor, gut einstudiert von Matthias Drechsler hat dankbare Aufgaben
Dem Buchautor Michael Weller kann man gewiss keinen Vorwurf machen, er habe das Romangeschehen simplifiziert. In Gegenteil: Eine riesige, bilderreiche Introduktion wölbt sich über Jurij Schiwagos und Lara Guichards Kindheit bis zu Jurijs Verlobung mit Tonia. Derart üppig und satt durchkomponiert ist diese Partitur, dass die ganz wenigen Stellen ohne Musik zu den eindrucksvollsten gehören, also Jurijs schicksalhafte Wiederbegegnung mit Lara im Bürgerkrieg und der Abschied ihres vom Bolschewiken zum Verfolgten abgesunkenen Ehemanns Pavel. Die Handlungsfülle bringt annähernd alle wichtigen Stationen von Pasternaks Roman in griffige dramatische Einheiten. Diese Verzahnung ist geschickt, verknappend in plausiblen Proportionen, ohne schmerzende Auslassungen.
Beeindruckend zäh im Kampf um die Beseligung der Hörer
Aus Perspektive leidenschaftlicher Musicalenthusiasten erfüllt die Musik viele Ansprüche: Gefällige genregerechte Romanzen, Balladen, Folkloristisches, Märsche für die Schützengräben. Doch nur in die Klangfarben für die Kommunisten mischen sich als komponierte Kommentare Harmonietrübungen, als sei der Komponistin Lucy Simon beim Anrücken der roten Gefahren nicht ganz so wohl wie an der russisch-deutschen Front. Dagegen fühlt sie sich umso glücklicher in den Stereotypen ihrer schier unerschöpflich sprossenden Melodien. Auf den unverwechselbar einmaligen Moment einer musikdramatischen Pointe mit Powerwirkung wartet man lange. Doch Lucy Simon erweist sich als beeindruckend zäh im Kampf um die Beseligung der Hörer. Deshalb wird ihre Hartnäckigkeit schließlich doch belohnt: Gegen Ende stehen sie sich gegenüber, die von Jurij geliebte Lara und seine Ehefrau Tonja, die zu lieben er sich mit allen edlen Kräften anstrengt. Vereint in Leid, Ungewissheit und noch dazu melodiensynchron. Spätestens da schmilzt sogar der Herzpanzer des bösesten Skeptikers. Und ab da dürfen die im Vorfeld zum Vorstellungsbesuch anempfohlenen Taschentücher endlich ihren Zweck erfüllen. Abwechslung bietet Maurice Jarres unwiderstehliches „Lara’s theme“, das aus dem Schiwago-Film auf einen noch nicht ganz zur Sowchose umfunktionierten Landwirtschaftsbetrieb verschoben wird.
Die dramaturgisch-visuelle Einheitlichkeit strahlt aus zur szenischen Realisierung durch Chefregisseur Cusch Jung. Immer wieder packende Ansätze seiner Personenregie, die bei allen sich bietenden leisen Momenten den Anker auswirft, behaupten sich leider nicht immer gegen die vielen Massenszenen, manchmal auch schwer gegen die vielen musikalischen Reminiszenzen. Fast scheint es, als hätte Cusch Jung mehr Freude an etwas weniger Musik gehabt. Für das Ballett und die versierte Choreografie Mirko Mahrs gibt es häufiger ländliche Szenen als aus dem Roman erinnert. Katrin Fritz ist sich dessen bewusst, dass sie eine Ausstattung für eines der ersten Operettenhäuser Europas gestaltet: Egal ob im dekadenten Moskau, da denkt man an „Anna Karenina“, oder vor den friedlichen Hütten, vor den bekriegten Palästen oder in den Camps der Bolschwiken: Kostüme und Bühne überziehen alles mit schauprächtiger Großzügigkeit.
Jan Ammann – ein Sänger mit Charisma
Nach „Ludwig2“ darf der baumhohe und als Typ zum Film-Jurij Omar Sharif prächtig konträre Jan Ammann einen weiteren differenzierten und fordernden Charakter verkörpern. Hat er das Charisma? Und wie! - Die Stimme sowieso. Es ist vor allem seine bewundernswerte persönliche Leistung, dass er der Folge meist dankbarer Melodien und Szenenmuster innere Spannung entringt. Was er eigentlich kann, zeigt Jurijs motivisch zerstückelter und fast sinfonisch ausladender Monolog. Hanna Mall, die sanfte Tonia, und Lisa Habermann, die Lara mit der entschuldbaren Vergangenheit, werden im Verlauf einander immer ähnlicher. Laras Enthüllung vor ihrem Bräutigam Pavel speist sich, erst recht in der deutschen Übersetzung von Sabine Ruflair und Jürgen Hartmann, aus dem Vokabular eines „Offenen Wortes für höhere Töchter“. Das ist um Lichtjahre entfernt vom Charakter der Prosa Pasternaks. Die Miniszenen des Anfangs entsprechen weitaus mehr den im Roman fast aphoristisch eingepassten Fakten zu Politik und Geschichte.
Sehr geradlinig als Bolschwik Pavel Antipov und späterer Armeeführer hält sich Björn Christian Kuhn. Mit dem opportunistischen und dabei schillernden Viktor Komarovskij, diesem tiefschwarzen Engel, der Jurij finanziell und Lara körperlich ruiniert, wissen weder Lucy Simons Musik noch ihre Wortgeber sonderlich viel anzufangen. Das kann Patrick Rohbeck aber dank seines überaus präsenten Totaleinsatzes über weite Teile reparieren.
Mindestens sieben große Lieben erlebt man im Schiwago-Musical: erwiderte, unerfüllte, erzwungene. Das ist beachtlich. Aber etwas sieht man im Musical nur ansatzweise: Diese einmalige und Welten aus den Angeln hebende Liebe, für die Pasternak letztlich keine Worte finden wollte. Denn „Leidenschaft will Brüche“ (Jurij Schiwago: „Erklärung“)
- Doktor Schiwago (Doctor Zhivago – A New Musical). Musical in zwei Akten. Buch von Michael Weller. Musik von Lucy Simon. Gesangstexte von Michael Korie und Amy Powers. Nach dem Roman von Boris Pasternak. Deutsch von Sabine Ruflair (Gesangstexte) und Jürgen Hartmann (Buch). Deutschsprachige Erstaufführung
- WEITERE AUFFÜHRUNGEN: 30. Januar / 6., 8. & 9. Februar / 10. & 11. März / 19. & 20. Mai / 26. & 27. Juni 2018