In Lübeck tagte vom 7. bis 9. Juni 2018 der Deutsche Bühnenverein. Seine Jahreshauptversammlung begleitete nicht nur das städtische Theater u.a. mit Schrekers „Der ferne Klang“ und Verdis „Otello“, auch die Musikhochschule Lübeck, kurz MHL, produzierte sich. Sie zog ein Projekt vor, das ursprünglich für einen späteren Temin geplant war. Eine etwas andere Version des „Don Giovanni“ sollte es werden.
Das Vorhaben durfte gleich aus zwei Gründen den Bühnenverein interessieren. Zum einen beschäftigt ihn ganz allgemein „Ausbildung für die künstlerischen und künstlerisch-handwerklichen Berufe“. Dieses Thema gehört schon satzungsgemäß in seinen Bereich. Eine Opernaufführung in der MHL konnte den Teilnehmern daher ein plastisches Bild von der Gesangsausbildung an der Trave geben. Zum anderen war in diesem Jahr der Umgang mit sexueller Belästigung und Machtmissbrauch ein Thema des Treffens. Da ließ sich vortrefflich zu dem klassischen Schwerenöter eine Brücke schlagen.
Eins für zwei
Die Regie betrieb beides. Mit ihr war Jürgen R. Weber vertraut, 1963 in Hamburg geboren und Autor für Film und Theater. Sein Trick in diesem experimentellen Arrangement war, und damit bediente er geschickt den ersten der oben genannten Gründe, die breite Palette von Begabungen dadurch aufzuzeigen, dass er die acht Partien von mehr als doppelt so vielen Sängern ausführen ließ. Einerseits verwirrt das, wenn mal dieser, mal jene dem Leporello oder der Donna Anna Stimme und Gestalt gibt, wodurch eine stringente eigene Rollengestaltung sich verbot. Dennoch boten sich so für viele Studenten Praxistests in Gesang und Spiel. Dem verwirrten Zuschauer, zumindest dem in der ersten bis etwa zehnten Reihe, wurde durch salopp wirkende Namensschilder auf Pappkarton Hilfe geboten. Gebogen und wohl durch vielerlei Proben schon leicht ramponiert, baumelten sie dem Opernpersonal an Bindfäden vor der Brust und wechselten schnell von Hals zu Hals, manchmal innerhalb einer Szene. „Donna Elvira“ war zu erkennen, „Don Ottavio“ schon schwerer, kaum aber „Commendatore“, obwohl es eigentlich Commendatoresse heißen musste, da der seriöse Bass einem wohlklingenden Mezzosopran übereignet war.
Dramma giocoso
Die Bühne des Großen Saales in der Hochschule bot nur wenig Raum. Mehr als die Hälfte davon beanspruchte nämlich das Orchester samt Dirigenten davor. Sechs Stühle in verschiedenen Farben und eine Tür mit Spiegelecken aus dem Requisitenfundus sowie im Hintergrund noch ein kaum genutzter Standspiegel waren die wenigen Bühnenelemente. Taue, erst später eingesetzt, symbolisierten vielerlei Verknüpfungen. Mit ihnen fesselte Don Giovanni die widerborstige Zerlina, um später selbst damit gefangen zu werden, und auch Zerlina versuchte damit, ihren enttäuschten Masetto wieder an sich und überhaupt zu fesseln. Ein kurzes Tauende, im sinnlich hellen Rosa und zur Schlinge geformt, diente wiederholt, in scheinbar hoffnungsloser Lage Mitleid zu erzeugen. All diese Elemente und ein paar Regenschirme als Nudelrollen- oder Degenersatz erlaubten ein trotz der Enge munteres, teils sogar rasantes Spiel, das gleich Donna Anna als eine emanzipierte junge Frau präsentierte. Sie setzte sich gegen die Männer handfest durch, so dass sie ihr schon deshalb zu Füßen lagen. Das verstärkte den Eindruck, dass Mozarts Oper vor allem als „Dramma giocoso“ realisiert werden sollte. Dazu trug bei, dass alle Seccorezitative gestrichen wurden und somit sich die Spielzeit von normalerweise drei Stunden halbierte. Dadurch folgten die Höhepunkte sehr rasant aufeinander, die launigen wie Champagner- oder Register-Arie und die beseelten von Donna Elvira mit ihren Koloraturen, die empfindsamen Ottavios oder die koketten von Zerlina. Namen von herausstechenden Leistungen zu nennen, ist nicht möglich, schon wegen der Vielzahl, aber auch wegen eines fehlenden Programmzettels.
#MeToo
Der andere Grund, aus dem die Angereisten des Bühnenvereins den Weg an die Obertrave nehmen sollten, war laut Vorankündigung der Hochschule das Versprechen, die „Produktion“ wolle „sich mit dem aktuellen Thema der sexuellen Übergriffe auseinandersetzen, so werden Übergriffigkeiten des US-amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinsteins auf Toneinspielungen zu hören sein.“ Das wurde drastisch mehrmals deutlich, wenn die Bühne sich plötzlich in ein Rotlicht-Milieu verwandelte und aus Lautsprechern Gesprochenes im Stimmengewirr, aber immer unverständlich erklang. Mozart hatte derweil zu schweigen, nahm danach ungerührt den Faden wieder auf. Man mag eine Parallele zwischen Spanien oder Lübeck und Amerika sehen, denn auch Lorenzo Da Pontes Held hatte in Bezug auf Frauen so einiges auf dem Kerbholz. Er tötete den Komtur, den Vater der adligen Donna Anna, als sie um Hilfe schrie, das aber erst, als der nächtliche Besucher, eben Don Giovanni, sich nicht zu erkennen geben wollte. Die bürgerliche Donna Elvira ist hinter ihm her, um ein Eheversprechen einzufordern. Zerlina schließlich, der Bäuerin, nähert sich der leichtfertige Kavalier bei ihrer Hochzeit mit Masetto und verführt sie nach allen Regeln der „Kunst“, wozu ihm Mozart mit einem der großartigsten musikalischen Einfälle beistand. Drei Damen, drei Stände und ein unersättlicher Liebhaber der Frauen kommen zusammen. Und da fängt das Problem eines Vergleiches mit dem amerikanischen Frauenhelden an. Mozart schafft es nämlich, seinen großen Verführer als einen darzustellen, der keine Gewalt oder Macht benötigt. Die hier besprochene Bühnenfassung interpretiert deshalb in der Zerlina-Episode schlicht falsch, wenn Zerlina von Don Giovanni gefesselt und dadurch gefügig gemacht wird. Mozarts Musik und/oder Da Pontes Libretto kommentieren das anders, auf eindeutige Weise.
Es bleibt die Frage, ob der vollständige Titel „Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni“ (‚Der bestrafte Wüstling oder Don Giovanni‘) genug ist, den Opernhelden und den mächtigen Filmproduzenten zu Kollegen zu machen. Der eine wird poetisch durch eine höhere Gewalt bestraft, den anderen bestraft banal irdische Gesetzlichkeit.