Wer von einem Festival für Neue Musik das nie Gehörte, zukünftige Richtungen Anzeigende erwartet, dürfte von der diesjährigen Ultraschall-Ausgabe mehr als je zuvor irritiert gewesen sein. Zwar ging es den Programmmachern von Deutschlandradio Kultur und Kulturradio im rbb stets darum, die „Klassiker“ verschiedener Avantgarden in neue Zusammenhänge zu stellen, neu zu beleuchten und mit hochkarätigen Interpreten Maßstäbe einer dringend notwendigen Aufführungstradition zu schaffen. Denn die nur einmal gehörte Uraufführung nützt niemandem, nicht dem Publikum, das sich der schwierigen Moderne weiter verschließt respektive sich das unmittelbar Eingängige herauspickt, und den Komponisten schon gar nicht. In diesem Jahr allerdings ging es bei Ultraschall „historisch“ wie noch nie zu, wobei die eigentliche Überraschung darin bestand, wie viel Unbekanntes hier zutage gefördert werden und zu neuen Lesarten des vermeintlich Bekannten führen konnte.
Frappierend, wie sich die roten Fäden des Programms immer wieder zu einem dichten Netz wechselseitiger Bezüge knüpften. Im Zentrum stand das ungleiche Paar Jean Barraqué und Claude Vivier, streng organisiert und klangasketisch der eine, sinnlich und aus dem Chaos schöpfend der andere. Konträrere Musiksprachen sind kaum vorstellbar. Barraqué, der 1928 geborene Franzose, strebt zu Beginn der 50er-Jahre zur totalen seriellen Ordnung; der genau 20 Jahre jüngere Vivier sucht Auswege aus der seriellen Gefangenschaft, macht vor tonalen, ja populären Floskeln nicht halt. Als Kanadier, der erst mit 23 Jahren nach Europa kam, später bei Karlheinz Stockhausen studierte, steht ihm die regelhaft durchstrukturierte europäische Tradition wohl auch weniger nahe. Einiges an Naivität seiner um jegliche Avantgarden unbekümmerten Musik ist so zu verstehen. Dabei verbindet ihn mit dem kühlen, intellektuellen Barraqué eine quasi religiöse Unbedingtheit der künstlerischen Haltung, in der sich Spuren einer frühen Begeisterung für den Katholizismus finden. Musik blieb für Vivier zumindest immer auch Ritual, während Barraqué sie als „Überschreitung aller Grenzen“ auffasste: „Musik ist Drama, Pathos, Tod.“
Den Ausschlag gab ein spektakulärer Fund auf einem Pariser Dachboden vor zwei Jahren: In einem Koffer fand sich das gesamte, verschollen geglaubte Frühwerk von Barraqué, das jetzt bei Ultraschall seine Ur- beziehungsweise deutsche Erstaufführung erlebte. Aus einer großen Menge an Liedern, Klavierstücken und Chorsätzen – teils noch mit durchaus „impressionistischen“ Anklängen, im Sprachduktus sehr „französisch“ anmutend schält sich als bleibender Eindruck die von Carolin Widmann fulminant gespielte Sonate für Violine solo (1949) heraus, ein Virtuosität und Strenge verbindendes Werk, ebenso das vom Diotima-Quartett wiedergegebene Streichquartett von 1950, das sich zur Zwölftönigkeit vortastend durchaus traditionelle Ausdruckscharaktere enthält. Spannend allemal, den Weg des Komponisten zu seinem „opus summum“ zu verfolgen, der relativ bekannten Sonate für Klavier. Doch wie Nicholas Hodges sie spielte, schien sie ein total neues Werk zu sein – schwer zu entscheiden, ob seine prägnante Interpretation oder die nach dem Manuskript revidierte Fassung für den Eindruck von so viel größerer Fasslichkeit, packender Dramaturgie und Durchstrukturierung sorgte.
Dem Barraqué-Erlebnis, das manches Vorurteil einer angeblich allzu spröden Musik gegenüber revidierte, stellte sich Claude Vivier um vieles problematischer entgegen. Bewusst waren Werke von relativ „gesichertem“ Charakter wie „Orion“ oder „Lonely Child“ ausgeklammert worden. Auch hier ging es um ein Frühwerk, um tastende Suche nach Material und Sinn, ohne biographische Bezüge nicht zu verstehen. Hinzu kommt die Unvollständigkeit der Vivier’schen Partituren, bei der fast immer die Interpreten zu Vervollständigungen oder Eigenfassungen aufgefordert sind. So wirkte der RIAS-Kammerchor in „Musik für das Ende“ wie eine Selbsterfahrungsgruppe der 70er-Jahre, im Kreis durch die dämmrige Parochialkirche schreitend und so etwas wie Mantras oder liturgische Beschwörungsformeln vor sich hin murmelnd, die sich eher zufällig zu teils dissonanten Klangnetzen zusammenfügten. Ein glücklicheres Händchen hatten die „Neuen Vokalsolisten“ mit „Love Songs“, bei denen sich komödiantische Talente individuell entfalten konnten und trotzdem ein Changieren zwischen Ironie und Verzweiflung entstand. Allerdings pflegt Vivier hier (1978) schon eine viel avanciertere Musiksprache. Auch „Hiérophanie“, wie die „Musik für das Ende“ 1971 entstanden, forderte die Musikfabrik ein wenig zu sehr zum Klamauk heraus – natürlich sind aggressiv geblasene und geschwenkte Blechblasinstrumente attraktiv, aber eine stillere Version hätte vielleicht die Vorstellung des Komponisten von einer „heiligen Handlung“ besser zum Tragen gebracht.
Das Offene, Unabgeschlossene dieser Frühwerke schlug den Bogen zu John Cages „Thirty Pieces for Five Orchestras“ – auch hier liegt das klangliche Ergebnis in der Verantwortung der Interpreten. Dieses aufwendig zu realisierende Stück – man braucht immerhin fünf Dirigenten – überhaupt einmal erleben zu können, war schon Verdienst genug. Das Deutsche Symphonie-Orchester unter Arturo Tamayo legte sich denn auch mächtig ins Zeug, schaffte es, aus äußerst unterschiedlichen Gruppen einen Gesamtklang zu formen. Zum anderen bedient auch dieses Stück eine der Lieblingsideen der Festival-Macher Rainer Pöllmann und Margarete Zander, die des „nicht szenischen Musiktheaters“. Spätestens seit dem Portraitkonzert von Simon Steen-Andersen im Vorjahr ist klar, dass die visuelle Komponente des Musikmachens die Wahrnehmung mitbeeinflusst, dass sie auch als eigenständiger Anteil herausgelöst und weiterentwickelt werden kann. (Natürlich erreichte das nie die Prägnanz und inhaltliche Brisanz wie Mauricio Kagels „instrumentales Theater“.)
Kaum aber kann die Idee sensibler umgesetzt werden als von Sarah Nemtsov in ihrem inszenierten Zyklus „A long way away“. Texte von Walter Benjamin, Marcel Proust oder „musikalische Reaktionen“ auf Bilder nach Gedichten Mirko Bonnés liegen ihm zugrunde, ohne dass ein einziges Wort gesprochen oder gesungen wird. Die Musiker sind zwar einheitlich gekleidet, eine strenge, stille Farb- und Formgebung beherrscht die Bühne der Sophiensäle, doch spektakuläre Aktionen, selbst eine Vergrößerung der Klangerzeugung, gibt es nicht. Doch dass es um Erinnerungen geht, teilt sich in jedem Ton mit, gestützt von Alltagsgeräuschen wie raschelndem Laub, das Klappern einer altmodischen Schreibmaschine, das Klirren eines auf den Boden geworfenen Schlüsselbundes. Wie Nemtsov das in ihre zarten Tupfen von präpariertem Klavier und Melodica, Harfe, Cembalo und Schlagzeug, Linien von Altflöte und Bassklarinette integriert, ist grandios, zeugt von wachem Klangsinn gerade dadurch, dass es vollkommen natürlich wirkt. Dass sich in diesen Andeutungen Dramen ereignen können, glaubt man ihr sofort. Diese Uraufführung wird zur erfreulichen Entdeckung einer zeitgenössischen Komponistin, die aller „Historie“ des Festivals standzuhalten vermag. Weniger trifft dies auf Oscar Bianchi zu, der seine Kantate „Matra“ mit Texten des Vijnana-Bhairava-Tantra, dem Evangelium der Maria Magdalena sowie aus „De Rerum Natura“ des Lukrez überfüllt, mit apokalyptischen Klängen so existenzielle Tiefen erreichen will wie Vivier. Das ist nicht ungeschickt gemacht, sehr farbig-monumental, und ermüdet doch auf die Dauer von über einer Stunde.
Erinnerung beschwört auch Alberto Posada in seinem Streichquartett „La tentacion de las sombras“, sich äußerst virtuos am „Klangschatten“ abarbeitend. Die unermüdlich präsenten Neuen Vokalsolisten zauberten auch aus mäßig einfallsreichen, dem Madrigal nachempfundenen Gesängen von Manuel Hidalgo oder José María Sánchez Verdú. Spannender dagegen das Wechselspiel von drei Stimmen und Orchester in „Le jardin perdu“ des 33-jährigen Tschechen Ondrej Adámek, trotz einer gewissen klanglichen Überladenheit geschickt Licht und Schatten verteilend. Licht und Raum inspirierten auch das Sheridan-Ensemble zu einem „gebauten Programm“ mit Werken von Fausto Romitelli, Rolf Wallin, Franco Donatoni unter anderem im Radialsystem. Szenische Aufbereitung trifft sich mit der Erprobung neuer Konzertformen. Und doch war kaum etwas eindrucksvoller als Mark Andres Orchesterstück „...hij...“ im Abschlusskonzert des Deutschen Symphonieorchesters, das klanglich auf ein Flüstern und Wispern der Instrumente reduziert alles an Sinnsuche, Tiefgang, Verzweiflung und Hoffnung ansprach, was zuvor mit großem Apparat und vollmundig eingesetzten Inhalten versucht worden war.