Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat man im Westen diskutiert, ob man derzeit russische Opern spielen soll oder nicht. Peter Carp, der am Saisonende scheidende Intendant des Freiburger Theaters, hat sich in seiner letzten Musiktheaterinszenierung am Haus für Tschaikowskys „Pique Dame“ entschieden, das er in eine ästhetische, opulent-expressionistische Welt versetzt. Zweimal verlässt er aber dieses Setting, um die Kriegsgegenwart in Erinnerung zu rufen.
Dramatik und Intimität – Peter I. Tschaikowskys „Pique Dame“ am Theater Freiburg
Der Kinderchor (Leitung: Elisa Brunnenkant) in der ersten Szene ist in echte Feldanzüge gesteckt und mit Maschinengewehren ausgestattet. Die Soldatenparodie erhält beklemmende Nachdrücklichkeit. Und beim musikalisch glanzvollen Auftritt der Zarin am Ende des dritten Bildes schlendert ein grinsender Wladimir Putin zu den Huldigungen des Chores auf die Bühne, ehe sich Lila Chrisp als Polina die Maske vom Gesicht reißt. Mit diesem verstörenden Theatercoup geht es in die Pause.
Dass Carp diese Anspielungen nicht weiter ausbaut, ist kein Mangel. In seiner atmosphärisch dichten, bildstarken Inszenierung legt er den Fokus ganz auf die Hauptfigur Hermann, mit dem sich Tschaikowsky wegen dessen Außenseitertums stark identifizierte. Roberto Gionfriddo gibt diesen Hermann von Beginn an als Sonderling, wenn er am Bühnenrand herumdruckst. Jede Geste, jeder Blick wird von Gionfriddo genau gesetzt, Hermanns zunehmende Verwirrung und gesteigerte Manie eindrucksvoll gezeichnet. Stimmlich entfaltet der Tenor vielsagende Zwischentöne und strahlende Glanzpunkte, kommt in der Partie am Premierenabend gelegentlich an Grenzen und geht auch darüber hinaus, wenn Unebenheiten hörbar werden oder sein Klang forciert gerät. Aber das Überdrehte, Nichtglatte passt auch zu dieser besessenen Figur, die mehr und mehr den Bezug zur Realität verliert und am Ende seine Liebe zu Lisa der Gier nach Erfolg im Glücksspiel und gesellschaftlichem Aufstieg opfert. Deshalb geht Gionfriddos Rollenporträt unter die Haut.
Kaspar Zwimpfer hat ein variables Bühnenbild gebaut, das die Figuren erdrücken kann mit Brokat und Seidentapeten, aber auch durch nüchterne Sachlichkeit vereinsamen lässt. Die drei Spielkarten, die man leitmotivisch hören kann, sind zu sehen. Treppen stehen für Aufstieg und Fall, aber auch für Orientierungslosigkeit. Ein Gazevorhang ermöglicht eine zweite Bildebene (Licht: Diego Leetz) und lässt stimmig Realität und Fiktion verschwimmen. Die edlen Kostüme von Gabriele Rupprecht sind ebenfalls im Spannungsfeld zwischen detailgetreuer Opulenz und expressionistischer Überzeichnung angesiedelt. Der Damenchor wird nämlich auch mal mit bauchigen Puppenkostümen ausgestattet. Lisa, der Inga Schäfer mit ihrem schlanken Mezzosopran sowohl Geschmeidigkeit als auch Durchsetzungsvermögen verleiht, könnte dem Berlin der wilden 1920er-Jahre entsprungen sein. Ein projiziertes Bild trägt kubistische Züge im Stil von Lyonel Feininger. In diesen atmosphärisch dichten Räumen hält Peter Carp im Halbdunkel die Spannung hoch. Und setzt einen eigenen Akzent, indem er den dramaturgisch fragwürdigen Tod der Gräfin (mit dunkler Tiefe und reichen Klangfarben: Anja Jung), die laut Libretto aus Schreck vor Hermanns Pistole verstirbt, als Mord durch Lisa darstellt, die am Ende Polina küsst – alles vom Regisseur handwerklich perfekt umgesetzt.
Diese atmosphärische Dichte hörte man auch aus dem Orchestergraben. Das Philharmonische Orchester Freiburg läuft unter dem ersten Kapellmeister Ektoras Tartanis zu Hochform auf. Der flexible Streicherklang verbindet Homogenität mit Durchsichtigkeit. Die Bläsersoli entfalten suggestive Kraft. Auch wenn die schnellen, Panik suggerierenden Synkopen nicht immer stabil sind und gelegentlich Chor und Orchester klappern – Tartanis gelingt mit den Freiburger Philharmonikern Großes, wenn er im Pianissimo zu Beginn des vierten Bildes die Spannung hochhält, schnell zwischen Dramatik und Intimität wechselt und auch die Massenszenen mit dem Chor (Einstudierung: Norbert Kleinschmidt) klanglich perfekt austariert.
Hört man dem sensiblen, klangschönen, über ein wunderbares Legato verfügenden Bariton von Jakob Kunath zu, könnte man sich vorstellen, dass Lisa auch mit diesem von ihr verschmähten Fürst Jelezki glücklich wird. Lila Chrisp brilliert nach der deutschen Erstaufführung von „Prism“ erneut in den Rollen von Polina und Daphnis mit musikalischer Gestaltungskraft und darstellerischer Präsenz. Maeve Höglunds tragender Sopran (Mascha und Chloë) überzeugt genauso wie der voluminöse, dunkle Bariton von Juan Oroczo (Graf Tomski und Pluto). Auch die Nebenrollen sind mit Junbum Lee (Tschelanski), Junyeop Lee (Surin) und Yewon Kim (Gouvernante) gut besetzt. Eine Ensembleleistung mit ausschließlich eigenen Kräften, auf die das Freiburger Theater wie auf diesen ganzen packenden, klugen, sinnlichen Musiktheaterabend stolz sein kann.
- Nächste Vorstellungen: 4./19./25./28. Dez. 2024, 4./11. Jan., 1./23. Febr. 2025. Tickets unter www.theater.freiburg.de
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