Lange sind wir Schneewittchen nicht begegnet. Nicht dem Märchen der Kindertage, nicht Heinz Holligers Fortschreibung, die sich auf einen Text des schweizerischen Schriftstellers Robert Walser (1878–1956) aus der Zeit um 1900 stützt und von einigen Experten als die hochkarätigste Schweizer Oper des 20. Jahrhunderts begriffen wird. Wie bei der Uraufführung 1998 in Zürich dirigierte der als Oboist bekannt gewordene Komponist nun wieder selbst – in Basel. Dort ist man nicht nur hinsichtlich der Zuwanderung aufgeschlossener als anderswo in der Schweiz, sondern auch gegenüber der musikalischen Moderne.
Als signifikant erweist sich der Vergleich mit dem benachbarten, ungleich finanzkräftigeren Zürich, wo ein aus Berlin zugewanderter Opernintendant weisungsgemäß einen Kotau nach dem andern macht vor dem mediokren Bankenplatz-Geschmack – aber auch der Blick nach Stuttgart, wo immerhin jetzt in Kürze eine Uraufführung in größerem Format auf der Agenda steht.
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Schneewittchen ist also wieder einmal auferstanden – in Gestalt und mit der Intonation einer besonderen Märchenfigur, die in mancherlei Hinsicht nichts Märchenhaftes mehr an sich hat. Als Holligers Oper vor gut 15 Jahren (mit Juliane Banse in der Titelpartie) erstmals auf der Bühne erschien, lag der Vergleich mit Helmut Lachenmanns kurz zuvor uraufgeführtem „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ nahe – einem Werk des Musiktheaters, das gleichfalls auf einem „klassischen“ Märchen basierte und mit strikt modernen musikalischen Mitteln zu Werke ging. Freilich sind die Unterschiede zumindest ebenso evident wie die Parallelen: Holligers Arbeit stützt sich auf einen Text, den die Zuschauer (und möglichst in ganzer Tragweite) verstehen sollen. „Ei, welcher Unsinn ist im Sinn“, ließ der psychisch anfällige, für Zeittendenzen hellhörige und „nie zur Sicherung oder Versicherung seiner selbst“ gelangende Robert Walser sein Schneewittchen fragen. Sein Dramolett erzählt das hundert Jahre zuvor von den Gebrüdern Grimm aufgezeichnete Märchen ‚von hinten‘ her – als Diskurs über Schuld und Vergebung zwischen der schönen Prinzessin und ihrer bösartigen Stiefmutter, deren Mann (Pavel Kudinow ist der bassgewaltige Monarch und Vater), dem Prinzen als Libero im erotisch-sexuellen Viereck sowie dem Jäger als Mord- und Bettgesellen der Königin (Christopher Bolduc als sich gutmütig gebender Spielbariton). Die Geschichte wird von den Füßen auf den Kopf gestellt: Das royale Märchen mutierte zu einer Familienanamnese in bürgerlich gedachtem Milieu. Bei der fehlen die Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen so wenig wie Selbstbezichtigungen und Beschwichtigungsversuche. Zu lernen ist, wie wichtig gerade auch auf dieser Ebene die Definitionshoheit ist.
Aufs Neue bestechen die expressiven Wirkungsmöglichkeiten eines konsequent modern gebliebenen Tons, in dem nur vereinzelt – vergleichbar Spolien in einer Mauer – Klangfetzen aus dem erotischen Arsenal der historischen Musik nachhallen.
Das, was Gerhard R. Koch „Holligers Quasi-Vivisektion des Instrumentariums“ nannte, lässt den Hörer immer wieder Klänge wahrnehmen, „die elektronisch klingen, ohne es je zu sein. Im Zwischenreich der Sonoritäten fühlt man sich denn auch häufig genau den Irritationen ausgeliefert, die Walsers Märchen-Vexierbild bereithält“. Holligers „Schneewittchen“ sei beklemmend für den neuartigen, kritisch skelettierenden Umgang mit dem, was in Schönbergs „Pierrot Lunaire“ einmal hieß: „O alter Duft aus Märchenzeit“. Holligers Interpretation der eigenen Partitur darf als authentisch gelten: So also soll seine subtile Tonkunst gehört werden – zunächst zaghaft zart, dann in zunehmend kräftiger Entfaltung der vielen Schattierungen, die den großen Bogen vom ersten Rückblick der königlichen Patchwork-Familie zum zweiten spannen. Es ist Musik, die sich aus den Erfahrungsschätzen der musikalischen Moderne zusammenrottete und inzwischen wie ein Märchen aus uralten Zeiten zelebriert sein will. Insgesamt eine zeitklangfarbene, zuletzt ein wenig zähe Komposition. Jedenfalls eine Arbeit sui generis.
Achim Freyer versorgte das psychoanalytisch aufschlussreiche Kammerspiel nun am Theater Basel mit einer symbolisch aufgeladenen, phantastisch bunten und buntbewegten Ausstattung. Leise rieselt der Schnee. Schon auf den Treppen des Zuschauerraums nahmen achimfreyersche Figuren in Empfang – zirzensische, allegorische und kunstgeschichtsreflexive Figuren. Ihre Schwestern und Brüder bevölkern die bunte Bühne, ständig wuselnd und hantierend, geschäftig wuschelnd und mit Bildbedeutungsschwere hausierend. Vielfach verschlingt und überschneidet sich die Lineatur in der Höhe des auch noch videomedial überformten Raums. Den Augen wird ein fortdauerndes (Über-)Angebot offeriert. Es ist, als sollten sich die Köpfe gar nicht einlassen auf die Ungeheuerlichkeit der erörterten Geschichte, die Egoismen und Dreistheiten der Protagonisten.
Schneewittchen wurde gedoppelt, wie dies auf dem deutschen Theater des vergangenen Jahrhunderts streckenweise üblich, inzwischen aber zum alten Hut wurde. Beide Schneewittwen tragen Ganzkopfmasken wie Mondfahrer – Anu Komsi singt dabei in Ausführlichkeit die sperrige, textintensive und virtuose Partie so angemessen (also auch schön und scharf!) wie Esther Lee in prägnanter Kürze als Alter Ego. Maria Riccarda Wesseling, die garstige Stiefmutter mit der imposanten, schmeichelnden und herrischen Stimme, fährt zu dreifacher Körperhöhe empor, als wäre sie die Königin der Nacht – und nicht enden will ihr rotes Kleid. Der nervöse Prinz Mark Milhofer im Pierrot-Kostüm raucht so elegant wie er den Tenorpart zum Quintett der guten Stimmen beisteuert. Die singenden Figuren werden zeitweise wie an Seilen geführt, also in ihrer Puppenfunktion überdeutlich artikuliert. Die sieben Zwerge erscheinen auf unterschiedliche Weise „vertiert“ – durch Kostümierung dem Hasen angenähert, beferkelt, gebärt und verschwant. Das einvernehmliche Leben mit den emsigen kleinen Bergarbeitern bleibt Wunschtraum der an den Folgen einer Ökoapfelvergiftung laborierenden Protagonistin: „Wär‘ ich bei meinen Zwerglein doch! Da hätt‘ ich Ruh – und ihr vor mir“.
Auch manche Nebenschauplätze erhielten opulente und fingerzeigfröhliche Dekorationselemente: Links auf der Vorderbühne streicht sich ein Violin-Engel durchs goldene Haar, rechts sitzt der Ziehharmonikamann auf dem Boden – keiner will ihn hören, keiner sieht in an, den wunderlichen Alten. Es gibt ja sonst auch mehr als genug zu sehen. Bei allen optischen Späßchen bleibt Freyers Bebilderung und Bezappelung der Bühne frei von gesellschaftskritischen Fermenten und selbst von Ironie. Dabei lag die Frage nahe, ob die sieben deutschen, fleißigen und teilnahmsvollen Zwerge in der Schweiz künftig überhaupt noch Aufenthalt nehmen dürfen, denn es handelt sich ja um eine Art von Massenzuwanderung: Sieben auf einen Streich! Womöglich muss sich Schneewittchen in drei Jahren mit zwei oder drei Zwergen begnügen und kann die Nächte nicht mehr so abwechslungsreich gestalten.