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Durch das 20. Jahrhundert in die Zukunft

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Pierre Boulez mit dem London Symphony Orchestra auf Geburtstagsreise durch die Welt
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In Deutschland darf sich Köln freuen, als einzige Stadt im sogenannten Land der Musik die Boulez-Hommage erleben zu können. Berlin, München, Hamburg, Leipzig, Stuttgart – Fehlanzeige. Frankfurt hat immerhin als Ausrede die Boulez-Woche, die von der Alten Oper in der vergangenen Saison veranstaltet wurde. Mit den vier London-Symphony-Auftritten gibt sich die Domstadt dabei noch nicht zufrieden. Boulez, in dieser Spielzeit Artist in Residence der Kölner Philharmonie, wird, nach den beiden letzten Konzerten mit dem Londoner Orchester am 4.und 5. März 2000, im April noch zwei weitere Konzerte in Köln mit dem Chicago Symphony Orchestra dirigieren sowie mit dem Ensemble Intercontemporain am 29. März eine Aufführung seines Werkes „Pli selon Pli, portrait de Mallarmé“.

Am 26. März 2000 feiert Pierre Boulez seinen 75. Geburtstag. Zeit, darüber nachzudenken, wie man den Tag möglichst ohne Feierliches verbringt. Am besten und für Boulez am charakteristischsten: mit Arbeit. So hat der französische Komponist beschlossen, in diesen Wochen und Monaten mit dem London Symphony Orchestra auf eine Tournee zu gehen. So wie er es schon zu seinem Siebzigsten getan hat. Mit dem Londoner Orchester, dessen Arbeitsweise und Musizierhaltung er außerordentlich schätzt, einigen berühmten Solisten und mehreren Uraufführungen im Gepäck reist Boulez, ungebrochen vital und jugendlich elastisch wirkend, durch die weit abgesteckte Musikwelt. In elf Metropolen der Musik – in London, Wien, Paris, New York, Brüssel, in Antwerpen, Cagliari, Salzburg, Luzern, Edinburgh und Köln – stellen Boulez und das London Symphony Orchestra in dreiunddreißig Konzerten vier verschiedene Programme mit Musik des letzten Jahrhunderts sowie mit vier Uraufführungen vor, die in die Zukunft weisen sollen. Eine Tour de force, die allein wegen der Arbeitsleistung schon Respekt erheischt. In Deutschland darf sich Köln freuen, als einzige Stadt im sogenannten Land der Musik die Boulez-Hommage erleben zu können. Berlin, München, Hamburg, Leipzig, Stuttgart – Fehlanzeige. Frankfurt hat immerhin als Ausrede die Boulez-Woche, die von der Alten Oper in der vergangenen Saison veranstaltet wurde. Mit den vier London-Symphony-Auftritten gibt sich die Domstadt dabei noch nicht zufrieden. Boulez, in dieser Spielzeit Artist in Residence der Kölner Philharmonie, wird, nach den beiden letzten Konzerten mit dem Londoner Orchester am 4.und 5. März 2000, im April noch zwei weitere Konzerte in Köln mit dem Chicago Symphony Orchestra dirigieren sowie mit dem Ensemble Intercontemporain am 29. März eine Aufführung seines Werkes „Pli selon Pli, portrait de Mallarmé“. class="bild">Pierre Boulez (Foto: Charlotte Oswald (c) 2000)

Die Programme der vier London-Symphony-Konzerte zeigen die unverwechselbare Handschrift Pierre Boulez‘. Wichtige Werke des 20. Jahrhunderts, von Gustav Mahlers sechster Sinfonie, Schönbergs symphonischer Dichtung „Pelléas und Mélisande“, Alban Bergs „Drei Orchesterstücken op. 6“, Bartoks „Holzgeschnitztem Prinz“, Strawinskys „Petrouchka“ bis zu Ligetis Violinkonzert, Boulez‘ „Originel“ und Berios „Notturno“ (die Orchesterfassung des gleichnamigen Streichquartetts) werden ergänzt durch vier Uraufführungen von Olga Neuwirth, George Benjamin, Peter Eötvös und Salvatore Sciarrino. Natürlich bleibt die Auswahl bei „nur“ vier Programmen zwangsläufig punktuell, folgt dabei den ästhetischen Präferenzen von Boulez.

Boulez wollte vor allem an ausgesuchten Beispielen die Entwicklung des Orchesterspiels im 20. Jahrhundert demonstrieren, die Schritte vom spätromantischen Riesenorchester bis zu den diversifizierenden kleineren Ensemblebildungen der Gegenwart.

Die beiden ersten Abende in der Kölner Philharmonie ließen die Konzeption schon plastisch hervortreten. Zwischen Bergs Orchesterstücken und Mahlers „Sechster“ stand die Uraufführung von Olga Neuwirths „Clinamen/Nobus“, ein Auftragswerk des London Symphony Orchestra, gemeinsam getragen von den weiteren Veranstaltern des „Projekts Boulez 2000“. Wie praktisch ein Boulez dabei zu denken vermag, erhellt aus der von ihm selbst erzählten Historie des Kompositionsauftrags an Neuwirth: da auf einer Tournee lange Umbaupausen, wie bei Uraufführungen gern üblich, schwer realisierbar sind, bat Boulez die Komponistin, bitte, ein Werk nur für Streicher und Schlagwerk zu schreiben.

Da die umgebenden Stücke von Berg und Mahler ohnehin einen großen Percussionsapparat benötigten, könnte sich die Komponistin diesbezüglich großzügig bedienen – was sie denn auch tat.

Den Begriff „Clinamen“ versteht Neuwirth nicht nur im vordergründigen Sinn als „Neigung einer Sache“, sondern auch in dem von Sigmund Freud definierten „Synonym für das Unvorhersehbare, den katastrophalen Moment“. In ihrem Stück nähert sie die zwei zunächst autonom agierenden Klangkörper, eben die Streicher und das Schlagwerk, allmählich einander an, sie „neigen“ sich sozusagen einander zu. Hawai-Gitarre und Zithern operieren zwischen den beiden Klangerzeugern.

Die zweiten Geigen sind einen Viertelton tiefer gestimmt, was immer wieder zu ungewöhnlichen klanglich-harmonischen Verfremdungen und Reibungen in der Klangtextur führt. Aufheulende Sirenen verstärken den Eindruck des Katastrophischen, der das Werk durchzieht. Komponiert ist das mit großer Dichte der musikalischen Gesten und klanglichen Innenspannungen. Neuwirths Komponieren gewinnt von Werk zu Werk an Souveränität und Fantasieentfaltung.

Das Katastrophische akzentuierte Boulez auch in den Berg-Stücken und in der Mahler-Sinfonie. Boulez versteht es musterhaft, Bergs kompakten Orchestersatz aufzuhellen, die dynamischen Balancen zwischen Streichern und Bläsern im Sinne einer besseren Durchhörbarkeit präziser zu organisieren. Bei Mahler faszinierte der helle, metallisch scharfe Klang der Blechbläser, die plastische Gestik des Orchesterspiels insgesamt und ein kühler, beherrschter, gleichwohl leidenschaftlicher Ausdruck in der Gestaltung, in dem das Undomestizierte der Musik eindringlich hervortrat.

Im zweiten Konzert präsentierte Boulez George Benjamins „Palimpsest“, eine der vier Auftragskompositionen zum „Projekt Boulez 2000“. Die komponierten „Beschreibungen“, still in den Holzbläsern beginnend, unterbrochen von scharfen, kurzen Bläsereinwürfen, wirken allerdings eher skizzenhaft, wie ein erster Entwurf für ein Werk, das erst noch geschrieben werden soll. Wie man konzentriert und doch expressiv-weiträumig komponieren kann, demonstrierte Boulez mit seinem „Originel“ aus „...explosante-fixe...“. Das aus Musikern des London Symphony Orchestra gebildetete kleine Orchester zeigte, dass in dem Londoner Ensemble auch ein „Ensemble Modern“ steckt: Eine faszinierende Darstellung des Boulez-Stücks. Schönbergs Klavierkonzert op. 42 erklang danach als ein fein gestalteter Nachhall des tradierten Klavierkonzerts, wobei Boulez und Daniel Barenboim als Solist die klanglichen Spezifika des Werks subtil auszuleuchten verstanden.

Höhepunkt dann: Strawinskys „Petrouchka“ in der kompletten Ballettfassung. Boulez und das Orchester exzellierten in Klangfarben, Klanggesten, Rhythmus und Transparenz. So gestisch lebendig geriet diese Wiedergabe, dass man geneigt war, sich die tanzende Komplettierung auf der Bühne zu imaginieren.

Das dritte Programm, das am 4. März in der Kölner Philharmonie zu hören ist, bringt als Uraufführung von Peter Eötvös „Zero Points“, ferner Ligetis Violinkonzert mit Christian Tetzlaff als Solist und die Musik zu Bartóks Tanzpantomime „Der holzgeschnitzte Prinz“.

Das vierte Programm (am 5. März am selben Ort) umfasst Berios „Notturno“, Schönbergs „Pélleas und Mélisande“ und die Uraufführung von Salvatore Sciarrinos „Recitativo Oscuro“ für Klavier und Orchester mit Maurizio Pollini als Solist.

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