Das von der Deutschen Oper Berlin vorgegebene Thema bei der 3. Kooperation mit der Hochschule für Musik Hanns Eisler nimmt Bezug auf die Bohrung des tiefsten Lochs der Welt, auf der russischen Halbinsel Kola. An diesem Thema sind drei junge Komponisten bewusst vorbeigeschossen, und drei junge Regisseurinnen haben sich mit vielen Videoprojektionen, An- und Ausziehen, Bühnennebel und Dekorations-Zertrümmerung mehr oder weniger geschickt am Thema vorbeigemogelt. Ein langer, oft nerviger Theaterabend mit wenigen klanglichen Lichtblicken.
Den Besuchern dieser Uraufführungsproduktion ist es, wie im Kino, zu empfehlen einen Platz in den hinteren Reihen zu ergattern. Nicht das es vorne so laut würde, aber die meisten Aktionen spielen im ersten Stock des Simultanbaus von Ivan Ivanov, so dass Besucher der vorderen Reihen Gefahr laufen, in Genickstarre zu fallen.
„My Corporate Identity“
Das Libretto von Uta Bierbaum hat Thierry Tidrow arg textunverständlich komponiert, was allerdings angesichts von Plattitüden, wie „Kleider machen Leute, das ist nun mal so!“, wenig bedauerlich ist. Bezeichnenderweise bleibt von den Texten der mehrfach repetierte Ausspruch „Fick mich!“ besonders plastisch im Gedächtnis.
Unfreiwillig bereichert wurde die Partitur bei der dritten Aufführung durch ein mitgebrachtes, neben der Tribüne deponiertes Kleinkind, das aus einer musikalischen Familie zu kommen schien, denn es bemühte sich mit zunehmendem Erfolg, jaulende Katzenlaute inmitten der Opern- und Filmmusikschnipsel dieser Partitur explizit nachzuahmen.
Kleiderwechsel, Shoppen und Ficken bestimmen die Regie von Zsófia Geréb, mit einer Persönlichkeitsspaltung der Frau mit der grünen Bluse (Sunniva Unsgard und Marilou Jacquard), deren Chef (Ferdinand Keller) unter seinem Anzug Lederzaumzeug trägt und der sich, mit einer Hundemaske von seiner als Bunny umkostümierten Sekretärin (mit stereotypen Koloratur-Jauchzern: Constanze Jader) befriedigen lässt; ein Mann im Affenkostüm (Patrick Hornak) streut Konfetti.
Im Bühnenbild reißt die Wand unter den Simultanspielflächen durch.
„die stimmlosen“
Nach 40 Minuten erklingt die zweite Komposition des Abends. Irene Galindo Quero bleibt im Ansatz konzertant: Zwei Sängerinnen und ein Sänger entsorgen in der Regie von Anna Melnikova jene Trümmer und Kleidungsstücke, die in der ersten Oper aus dem oberen Stockwerk auf die Vorbühne geworfen worden waren. Sie verneigen sich wiederholt affektiert (und lösen damit tatsächlich Applaus des Publikums aus), dann geistert der Affe mit Taschenlampe durch den Raum, zerreißt eine Wand, wodurch Gegenlicht die Zuschauer blendet. „Die Menschheit ist ein Schock“, heißt es im Libretto von Debo Koetting, das sich aber vorwiegend auf nonverbale Äußerungen beschränkt.
Das Orchester klatscht rhythmisch in die Hände, angereichert durch elektroakustische Einblendungen („Wir müssen weiter!"), mikrofonverstärkte Texte und bisweilen auch harmonische Klänge. Die tänzerisch begabte Solistin des ersten Stücks beweist ihr Können als Kontorsionistin, eine Gitterprojektion steht für Beengung („Es wird immer enger – Es wird immer besser!“). Die Dekoration erfährt weitere Durchbrüche und Risse, und das Kleinkind ist entweder eingeschlafen oder erlebte einen Durchbruch in die Welt der Träume.
„Tako Tsubo“
Eine Reihe von Besuchern verließ die Aufführung vorzeitig, aber jene, die bis zum Ende ausharrten, wurden belohnt: die Partitur von Malte Giesen transzendiert das Thema des gebrochenen Herz-Syndroms metaphorisch und durchbohrt bei der Fragestellung von Fanny Sorgos Libretto, wie ein Mensch ohne sein Herz im eigenen Leib leben könne, die Musikgeschichte.
32 Minuten nach Ende der zweiten Komposition setzt pausenlos die dritte Partitur ein, mit Dampf, Cluster und Text-Projektionen geht sie jener Frage nach, die – noch vor der erfolgreichen medizinischen Transplantation von Herzen – musikdramatisch bereits Hans Pfitzner in seiner letzten Oper „Das Herz“ (mit ähnlich schrillen Klängen einer heulenden Sirene) behandelt hat, wie auch diverse Opern nach Hauffs Märchen vom Kalten Herzen, von Mark Lothar bis Volker David Kirchner.
In Ulrike Schwabs Regie bewegen sich die Solist_innen marionettengleich, rennen auf dem Platz oder kotzen sich aus. Dazu vielfach redundante Videoprojektionen von Augen, Händen und Volksmassen – in der seltsamen Absicht, „Ich will eine Maschine sein!“. Dann ein Fuchs, Negativaufnahmen von Natur, die zeitversetzte Projektion einer Darstellerin, die sich auf einer Plastikfolie mit Farbe beschmiert. Nach der Persönlichkeitsspaltung im ersten Stück wird hier eine Personendreiteilung angestrebt: die drei Solistinnen (Laura Murphy, Yulia Shelkovskaya und Hanna Jung) wirken, jenseits ihrer Rollendefinition im Programmheft, uniform und tragen dasselbe Brillen-Kassengestell. Zur elektroakustischen Einspielung, „Wie kann ich Ihnen helfen? – Mein Herz tut so weh!“ bewegt eine andere Sängerin stumm die Lippen.
Giesens Partitur stößt bei seiner Bohrmaßnahme immer wieder auch auf Schichten, die uns vertraut erscheinen: Cluster, summende Chöre und Raumklangerlebnis im Rücken des Zuschauers. Orgelklänge überlagern das klassische Orchester-Klangbild, Glockenläuten, Orgelostinato und vorherrschend harmonische Akkorde mit einigen Störtönen versetzt, ein summender Damenchor als Harmoniegrundlage für das Erinnern „Ich hatte ein Herz“ und am Ende ein Sourroundklang.
Die Regisseurin besorgt in „Tako Tsubo“ die Dekonstruktion des Bühnenaufbaus mit seinen drei verfahrbaren Treppenelementen. Stoffbahnen werden abgerissen und geben den Blick frei auf einen entlaubten Baum (der laut Programmheft „von Steffen Lux zur Verfügung gestellt“ wurde), wie auch auf das treffliche 18 Mann-Orchester, welches diesem Abend Mark und Zusammenhalt verleiht: Vier Reed-Bläser (die jeweils mehrere Holzinstrumente spielen), Horn, Trompete, Posaune, Tuba, Schlagwerk, Harfe Keyboard/Sampler und solistische Streicher. Dem Dirigenten Manuel Nawri gelingt es, die unterschiedliche Stilistik der drei Partituren, jenseits einer bloßen Konzert-Abfolge, zu einem am Ende doch stimmig erscheinenden Kaleidoskop zu fügen.
Der Applaus des Publikums auf der ausverkauften Tribüne der Tischlerei zeigte, dass ein an neuer Musik geschultes Auditorium durchaus zu differenzieren vermag: gemessen am Applauspegel belegte das Mittelstück den dritten Platz; das dritte (inklusive seiner Darstellerinnen) gewann eine fragwürdige, dem Riss der Erde entkeimende Siegespalme.
- Weitere Aufführung: 9. Mai 2017