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From Dust – Szenenbild aus der Virtual Reality.

From Dust – Szenenbild aus der Virtual Reality. 

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Durchdachter Umgang mit Medientechnologie – Michel van der Aas Virtual Reality Opera „From Dust“ in Rotterdam

Vorspann / Teaser

Nach seiner Virtual Reality-Installation „Eight“ (2018/19) hat sich der niederländische Komponist Michel van der Aa zum zweiten Mal mit dem künstlerischen Potenzial der virtuellen Realität auseinandergesetzt. Sein jüngstes, in Zusammenarbeit mit einem umfangreichen Team realisiertes Projekt „From Dust“ (2023/24) wurde am 3. Dezember im Rahmen der „Immersive Tech Week“ im Konzert- und Tagungszentrum De Doelen in Rotterdam uraufgeführt und kann – falls man noch über Wartelisten eines der begehrten Tickets ergattert – dort noch bis zum 15. Dezember besucht werden.

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Die Bezeichnung des Projekts als „Virtual Reality Opera“ ist ein wenig irreführend. Denn eigentlich handelt es sich um eine Installation, in der ich mich, ausgestattet mit einer VR-Brille und Kopfhörer, über eine Zeitspanne von 24 Minuten als einziger Zuschauer bewege. Diese Zeit ist allerdings strukturiert und in mehrere aufeinanderfolgende Szenen aufgeteilt, die mich in unterschiedliche virtuelle Räume führen. „Aber ist das denn nicht langweilig, so ganz allein und ohne andere Menschen, die mit dir gemeinsam im Publikum zu sitzen?“, das fragte mich eine Freundin, als ich ihr vor einigen Wochen von meinem Plan erzählte, mir das Stück anzuschauen und dafür die siebenstündige Zugfahrt von Berlin nach Rotterdam in Kauf zu nehmen. Ja, natürlich bin ich der Einzige im Publikum, und das Gemeinschaftserlebnis, das mich an herkömmlichen Aufführungsorten begleitet (samt lästiger Begleiterscheinungen wie Füßescharren, Husten und Tuscheln) fehlt hier. Aber dies wird vollauf dadurch aufgewogen, dass das visuelle und räumliche Erlebnis von „From Dust“ über weite Strecken hinweg speziell auf mich zugeschnitten ist.

Komponierter Rahmen und generative KI

Aber beginnen wir von vorn: Am Veranstaltungsort De Doelen angekommen, empfängt mich zu Beginn meines Zeitfensters eine freundliche Mitarbeiterin, die mir eine Reihe von Fragen stellt. Sie lässt mich Situationen imaginieren und Orte schildern, sie entlockt mir fantasievolle Gedankenspiele und befragt mich über mein Verhältnis zu Nähe und Distanz angesichts von Menschenmengen. All diese Informationen dienen als Futter für die generative Künstliche Intelligenz, die zur Schaffung der virtuellen Umgebung von „From Dust“ eingesetzt wird. Konsequenterweise begegne ich im Verlauf des Stückes immer wieder Szenarien, die mir bekannt vorkommen, weil sie meiner Gedankenwelt entstammen. Zwar wirken sie leicht verschoben und gegenüber meiner Vorstellung verändert; doch bleiben sie immer als das kenntlich, was ich im Vorgespräch geschildert habe … als handele es sich um Traumbilder, die mir Situationen und Gegenstände widerspiegeln, die ich schon einmal irgendwo gesehen habe.

Der Rahmen dessen, was ich erlebe, ist freilich exakt komponiert und bildet das dramaturgische Gerüst, durch das ich geschleust werde, um auf unterschiedliche Weise mit existenziellen Grenzerfahrungen, mit Fragen nach der Vergänglichkeit oder der Beschaffenheit von Erinnerung, konfrontiert zu werden. Alles beginnt mit dem Betreten eines dunklen Raumes, in dem sich allmählich eine Wolke aus flimmernden Lichtpartikeln vor meinen Augen manifestiert. Nachdem ich die Wolke mit meiner Hand berührt habe, beginnt sie ihre Form zu verändern und verdichtet sich zum Abbild einer Frau, von der sich wiederum eine zweite Frauengestalt ablöst. Und dann, wenn sich unsere Blicke zum ersten Mal begegnen, beginnen die beiden Frauen für mich zu singen.

Es ist eine Wiederbegegnung mit dem unnachahmlichen mehrstimmigen Vokalstil, den der Komponist bereits in seinem interaktiven Liederzyklus „The Book of Sand“ (2015), in seiner Kammeroper „Blank Out“ (2015/16) oder in seinem Indie-Pop-Album „Time Falling“ (2019) auf jeweils unterschiedliche Weise erkundet und ausformuliert hat: An einer vibratolosen Einzelstimme lagern sich weitere Stimmklänge an, bilden sich spannungsvolle Reibungen, die sich in flächige Akkorde auffächern, um sich danach wieder einander anzunähern, sich in Gestalt schwebender Linien zu umschlingen oder, mit dezenten elektronischen Beats unterlegt, in tänzerische Bewegung geraten. Grundlage all dessen sind fünf großzügig dimensionierte Vokalsätze, die Michel van der Aa auf eigene Texte für das sechsköpfige Leipziger Vokalensemble Sjaella komponiert und um einen Soundtrack aus zusätzlichen Klangspuren ergänzt hat.

Einprägsames Erlebnis

Nicht nur das phänomenal ausdifferenzierte, glasklare Timbre der aufgezeichneten Frauenstimmen begleitet mich durch die Installation, sondern auch die Sängerinnen selbst tauchen immer wieder einzeln, zu zweit oder als Gruppe auf. Sie singen für mich, zeigen mir den Weg, schicken mich durch türartige Portale, lenken meinen Blick in bestimmte Richtungen, lassen mich Gegenstände berühren, die unter meinen Händen zu klingen beginnen, oder bilden einen engen Kreis um mich herum, sodass ich förmlich in das Gewebe ihrer Stimmen eingesponnen werde. Sieht man einmal davon ab, dass die vertonten Texte gelegentlich stark an Kalenderweisheiten erinnern, gerät man im Verlauf von „From Dust“ immer wieder in Situationen, die einen staunen lassen … und die sich – gerade weil die Worte doch sehr direkt zu einer Vergegenwärtigung emotionaler Kontexte beitragen – fest in die Erinnerung einprägen.

Da schaue ich beispielsweise über den Rand einer Brüstung und gewahre weit unter mir in der Tiefe die Lichter einer Stadt. Oder ich steige in einen Aufzug, der mich an der Außenseite einer futuristischen Gebäudekonstruktion entlang bis zu deren oberster Etage transportiert. Oder ich setze mich auf eine aus farbigen Lichtpunkten bestehende kreisrunde Fläche, die plötzlich mit mir aufsteigt und mich weit über die Wolken hinaus zu einem frei im Himmel hängenden Gebilde bringt, in dessen kuppelartigem Innenraum ich wieder festen Boden betreten kann. Dass all dies eben nicht einfach als spektakuläres Erlebnis in der virtuellen Realität daherkommt, sondern erst aus dem genau durchdachten Miteinander von visuellen Eindrücken, Bewegungen, Vokalklang und Sound seine Wirksamkeit entfaltet, ist ein weiterer Beleg für jenen durchdachten Umgang mit den Möglichkeiten von Medientechnologie, der für Van der Aas Arbeit mit bewegten Bildern so bezeichnend ist.

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