Alle, wirklich alle Operngänger kennen Mozarts‘ 1786 geschriebene Oper „Le Nozze di Figaro“. Es geht sehr konkret um den Vorabend der Revolution, der Bürger Figaro probt mit seiner Verlobten Susanna den Aufstand gegen den Grafen, der wegen der attraktiven Susanna das Recht der ersten Nacht wieder einführen will, das er selbst gerade abgeschafft hatte. Aber in vielen Inszenierungen war es so, dass uns das soziale Problem eigentlich nichts mehr anging. Immer aber blieb die ergreifende tiefe Musik von Mozart, die auch die konservativsten Inszenierungen erträglich macht.
Nun hat in Bremen der junge Schauspielregisseur Felix Rothenhäusler (Hausregisseur am Theater Bremen) das Werk inszeniert und in seiner ersten Musiktheaterregie Aspekte aufgemacht, die von den historischen Fakten vollkommen wegführen und die Emotionen und Handlungen der Menschen – egal in welchem Stand sie sich befinden oder in welcher Zeit sie leben – offenlegen.
Am Anfang sitzen alle in einer Stuhlreihe und da bleiben sie während des ganzen Aktes auch sitzen: das wirkt zunächst ein bisschen wie „konzertant“ oder das künstlerisch unsägliche „halbszenisch“. Und das geht bei der Oper, die mit ihren Verkleidungen, Verwechslungen, Intrigen, Briefchen so durch und durch Theater ist, eigentlich nicht. Weder vermessen Figaro und Susanna ihr Zimmer – was verkraftbar ist – noch erwischt der Graf Cherubino hinter und in dem Sessel – was weniger verkraftbar ist. Die Kabinettszene im zweiten Akt, in der die nicht vorhandenen Wände und Zimmer durch Pantomime angezeigt werden gelingt besser, aber die Mozart‘sche Komik kommt nicht genügend rüber.
Doch im zweiten Akt löst Rothenhäusler die Protagonisten zunehmend aus der Reihung (beziehungsweise der Ordnung) und präsentiert ihre tiefen Emotionen, ihre Wunden, ihre Wut, ihre Freude, ihre Verzweiflung. Dazu braucht er kein Bühnenbild und keine historischen Kostüme: er gibt nur einen Nachthintergrund mit angedeuteten Sternen. Was deutlich wird und recht genau Mozart trifft: die Seelen der Menschen sind durcheinandergeschüttelt, sie verlieren zunehmend das, was sie für ihre Sicherheiten und ihre Identität halten. Immer weniger wird das berechenbar, was in der nächsten Sekunde passiert. Und da hört der Musiktheater-Neuling Rothenhäusler sehr genau auf die Musik, auf ihre Komik, ihre Dynamik und vor allem ihren Abgrund. Im vierten Akt entlässt er alle ins Dunkel der Nacht, in die Anarchie: ein großartig gelungenes Bild. Ob danach noch irgendetwas geht, bleibt offen, wahrscheinlich werden weder Susanna und Figaro glücklich noch sind Almaviva und seine Frau wirklich versöhnt: hoffnungslos desolat stehen sie da.
Und da muss von der musikalischen Interpretation die Rede sein: Clemens Heil und die Bremer Philharmoniker bestechen durch unglaubliche Tempi, die nicht Selbstzweck sind, sondern ziemlich genau das szenische Geschehen nach- oder vorzeichnen. Mit Wucht wird im ersten Akt die Intrige geschmiedet, im Finale des zweiten Aktes gibt es kein Halten mehr und da, wo so mancher Hörer endlich mal einen Ruhepunkt erwartet, muss er sich belehren lassen, dass es den gar nicht geben kann: so verwirrt, verzweifelt, beraubt ihrer Fundamente und ohne Perspektive sind die Menschen am Ende des zweiten Aktes.
Dem in den instrumentalen Proportionen hervorragend ausgeglichenen Orchester gelang ein Mozart mit seiner unerhörten Tiefe und gleichzeitig mit seinem unerhörten Witz. Nach der Aufführung in Prag sollen „Figaros Gesänge in den Gassen wiederhallt ...“ sein, so ähnlich mag es den jetzigen HörerInnen auch gegangen sein. Man konnte in jedem Augenblick die hinreißenden Tempi, die Balance von Bläsern und Streichern, die Klarheit der Artikulationen und Farben bewundern – nicht zu vergessen die pfiffigen Hammerklavierrezitative von Roman Lemberg.
Ein solches Konzept, das im Schlussbeifall unmissverständliche Begeisterung auslöste, funktioniert nur durch singschauspielerische körperbetonte Leistungen, von denen hier an erster Stelle Christoph Heinrich als Figaro und Marysol Schalit als Figaro und Susanna genannt sein sollen. Furios, wie die beiden sozusagen ihre Seele aufmachen. Aber kaum weniger stark Patricia Andress als Gräfin, Gustavo Feulien als stets hilfloser Graf – der so gar keine Autoritätmehr hat – und Silvia Hauer als leicht debil seine diffuse Sehnsucht suchender Cherubino. Und Patrick Zielke wunderbar pompös als Person gewordene Rache, Nathalie Mittelbach als Marzellina, Nerita Pokvytyté als Barbarina und der stets intrigant verschlagene Christoph Andreas Engelhardt.