Die 32. Ausgabe des Festivals Wien Modern stemmte die gewaltige Zahl von 109 Ur- und Erstaufführungen und bot ein breit angelegtes Programm rund um das Festivalthema „Wachstum“. An 34 Spieltagen strömten 20.216 Besucher/-innen zu 25 Spielstätten in 12 Wiener Gemeindebezirken.
Gerade einmal 19 Quadratmeter misst die Schaltzentrale des Festivals Wien Modern, versteckt in einem schmalen Gang im Wiener Konzerthaus. Dieses Mini-Büro teilen sich die Crew um den künstlerischen Leiter Bernhard Günther und die Pressearbeit, hier wird das ganze riesige Festival organisiert und laufend betreut. Der Jahrgang 2019 hat von der Veranstaltungsdichte und damit auch von der Besucherzahl zwar etwas abgespeckt gegenüber 2018, auf dessen Rekord-Daten Bernhard Günther immer noch stolz ist: „Wir hatten letztes Jahr 32.000 Besucher, welches Festival schafft das noch nur mit Neuer Musik? Und in großen Sälen mit bis zu knapp 2.000 Plätzen. Das schafft Wien nur, weil die zeitgenössische Musik hier halt seit langer Zeit eine erhebliche Rolle spielt.“
Das Eröffnungskonzert im großen Saal des Konzerthauses bestreitet das RSO Wien unter seiner neuen Leiterin Marin Alsop – der ersten Frau übrigens am Pult eines Wiener Top-Orchesters, eine Schülerin von Leonard Bernstein. Auf dem Programm „Hekla“ des isländischen Komponisten Jón Leifs, die „Sinfonia“ für acht Stimmen und Orchester von Luciano Berio, „Moult“ für Kammerorchester von Clara Iannotta, „Fireworks“ für Orchester von Agata Zubel sowie schließlich Peter Ablingers „4 Weiss“, ein Werk, das mit weißem Rauschen in Höchstlautstärke operiert und kontrovers und mit Buh-Rufen aufgenommen wird. Marin Alsop, die im Rahmen des Festivals auch eine Masterclass für Dirigentinnen unter dem optimistischen Label „Fifty-Fity in 2030. Gender equality in music, ten years from now“ leitet, nimmt die Buh-Rufe sportlich und begreift es als Privileg, in Wien zu arbeiten: „Ich habe es geliebt, diese verrückte Musik beim Eröffnungskonzert zu dirigieren. Wien ist so getränkt mit Tradition, aber es will sich in die Zukunft bewegen. Es scheint mir die am wenigsten konservative Stadt zu sein, in der ich je gearbeitet habe.“
Auch Festivalchef Bernhard Günther sieht die Kontroverse eher als Ausweis von Vitalität: „Peter Ablingers lautes ‚weißes Rauschen‘ hat für Buhrufe gesorgt, aber auch für Bravos. Die Leute haben sich wirklich lebhaft unterhalten, es war eine sehr produktive und berührende Irritation, solche Momente sind sehr spannend.“
Stillere Irritationen halten die zahlreichen Kammerformate bereit, die allesamt sehr gut besucht sind. Wie etwa die Uraufführung von „FACE.Dia.De“ des italienischen Komponisten Pierluigi Billone, ein Schüler Salvatore Sciarrinos, im Mozart-Saal. Das 65-minütige Werk für zwei Stimmen, Saxophon, Posaune, E-Gitarre, Klavier, Schlagwerk, Cello und Kontrabass verarbeitet keinen Text, sondern lässt den Gesang in vorsprachlichen Rhythmen und Lauten fließen. Anna Clare Hauf und Annette Schönmüller entlocken ihren Stimmen mit selbstverständlicher Virtuosität ein riesiges Spektrum an Lautäußerungen zwischen expressiver Vokalise und gaumigem Gegacker, das famose Ensemble „PHACE“ unter der inspirierten Leitung von Emilio Pomàrico konzentriert die flirrenden, mal schwerelosen, dann explosionsartig sich entladenden Klänge zu einer rauschartigen Dichte.
Im Schubert-Saal gedenkt ein Kammerkonzert mit dem Boulanger-Trio am übernächsten Tag des 50. Geburtstags der Alban Berg Stiftung. Neben der Pflege und dem Andenken der Werke Alban Bergs sieht sich die Stiftung der Förderung des Nachwuchs verpflichtet und richtet einen Kompositionswettbewerb aus, aus dem zwei prämierte Kompositionen erklingen: „Straße“ von András Gellérie - der im Podiumsgespräch bekennt, die Klaviertrio-Besetzung empfände er als schwierig in der Balance und Spätromantisches durchklingen lässt – und „beleuchten“ von Elias Jurgschat, der laut eigener Angabe „auf der Suche nach Klängen mit starker Binnendynamik“ ist und ein sehr sprödes Werk mit theatralischer Pointe liefert. Außerdem bietet das insgesamt sehr feinsinnig ausgeklügelte Programm Alban Bergs „Vier Stücke für Klarinette und Klavier“, wobei das Cello die Klarinette ersetzt, Beat Furrers „Lied“ für Violine und Klavier und Johannes Maria Stauds „Terra Fluida“ für Klaviertrio – beide Komponisten sind Juroren des Kompositionspreises.
Tags darauf bringt nun wieder im großen Saal des Konzerthauses das Spitzenensemble Klangforum Wien unter der Leitung von Sylvain Cambreling Alberto Posadas gewaltiges, fast 100-minütiges Werk „Poética del espacio“ zur österreichischen Erstaufführung. Das Werk für fünf bis 20 Musiker mit vier Sätzen und vier Intermezzi macht sich zur Aufgabe, die Seele eines Raums zu erfassen und die Verbindung zwischen dem inneren und äußeren Raum und ist als Auftragskomposition in Koproduktion von Wien Modern, dem Kölner Acht Brücken-Festival, Collegium Novum Zürich und Donaueschingen (SWR) entstanden. Das Ensemble ist zunächst in zwei einander gegenüberstehende Gruppen aufgeteilt, die eine subtile Kommunikation miteinander aufnehmen. Nach und nach verändert sich die Aufstellung, es gibt Annäherungen und Abstoßungen, die Komposition verdichtet sich mehr und mehr, entwickelt eine enorme Farbpalette, zuletzt eine sogartig crescendierende Dynamik und verlangt höchste Virtuosität des Ensembles. Sicher einer der Höhepunkte von Wien Modern. Festivalchef Bernhard Günther sieht sich in Wien in einer glücklichen Konstellation: „Das Verhältnis der Stadt Wien zur Neuen Musik ist sehr komplex und elaboriert, von Arnold Schönberg und seinen Schülern bis heute, wo es fast wieder einen Gründungsboom für Ensembles gibt. Diese Mischung aus sehr langfristiger Aktivität übers ganze Jahr seit vielen Jahren und dann unserem großen Feuerwerk fünf Wochen lang hat schon Langzeiteffekte gezeitigt.“ Günther beobachtet, dass in der zeitgenössischen Musik in den letzten Jahren wieder verstärkt eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen stattfindet. „Das nimmt nicht immer die Form von verbalen Kommentaren und Stellungnahmen an, das wird auch oft auf ganz musikalische, subtile Weise spürbar. Aber die kritische Haltung spüre ich bei vielen. Sich ein bisschen näher bei den unbequemen Wahrheiten aufzuhalten als bei den bequemen Unwahrheiten. Das hat in der Neuen Musik eine sehr lange Geschichte.“
Bei der Programmierung ist Günther wichtig, die ganze Breite der Neuen Musik abzubilden: „Bei einem Festival dieser Größenordnung möge das Publikum doch bitte verschont werden von einem einzelnen Geschmack einer einzelnen Person. Darum kann’s nicht gehen. Es muss vielmehr darum gehen, die Breite zu zeigen. Ich schaffe ganz bewusst Öffnungen. Da steht an vielen Abenden auch ‚kuratiert von…‘. Das Festival hat genug Ecken und Kanten. Aber es muss auch Öffnungen geben, so ein Festival braucht viele Fenster, Luftlöcher und Risse. Man muss auch mal Widersprüche spüren – das darf nicht alles zu logisch zusammenpassen. Wir wollen zeigen, dass Musik eine lebende Sprache mit vielen Dialekten ist, und dass es im Bereich der Neuen Musik gerade eine große Dynamik gibt.“