Eine triste Vorstadtkulisse, ein Laden, eine Karaoke-Bude, eine heruntergekommene Kaffee-Bar. In der ersten Etage sitzt das Orchester hinter Gittern wie in einem Käfig. Die Musiker des Klangforum Wien sind Bestandteil der Szene. Bert Neumann hat für das Projekt „Wolf“ die passende Kulisse entwickelt, ein ausladendes Bühnenbild, über das sich der hohe Raum der gigantischen Duisburger Kraftzentrale wie ein dunkel bedrohlicher Himmel wölbt. Denn was hier gezeigt wird, ist nicht beschaulich. Gleich in der Anfangsszene wird ein Mann brutal zusammengeschlagen, ein Obdachloser, der am Boden liegend von einem Hunderudel abgeschleckt wird. „Wolf... oder wie Mozart auf den Hund kam“ ist ein extremes Stück. Atemberaubend das temporeiche Spiel auf mehreren Ebenen, die Höchstleistungen der Tänzerinnen und Tänzer sowie einer Akrobatin, die sich, von langen Tüchern gehalten, aus schwindelerregender Höhe herabstürzt.
„Wolf“ ist in der Verschmelzung von Gesang, Tanz, Schauspiel, Gebärdensprache und Video eine expressive Form des Tanztheaters; mit gesellschaftskritischen und politischen Ambitionen. Der Regisseur Alain Platel zeigt, gelegentlich recht plakativ, das Nicht-Verstehen von Völkern, die Grausamkeiten des Krieges, vor allem aber die Verzweiflung und Einsamkeit des Individuums. Einen traurigen und unruhigen Mann habe er gefühlt, als er tagelang Mozarts Musik hörte, sagt der Platel. Verstörend die dargestellten Gefühllosigkeiten und Grausamkeiten, irritierend und kontrastierend die gelegentliche Situationskomik, berührend die heitere wie melancholische Seite der Musik Mozarts.
Die Dramaturgie des Abends hat Platel mit seinen Darstellern gemeinsam aus der Improvisation heraus entwickelt. So entstanden viele, sehr unterschiedliche Szenen, die sich zu einer großen Collage zusammenfügen. Sylvain Cambreling hat Ausschnitte aus verschiedensten Kammermusikwerken und Opern Mozarts zusammengestellt. Seine Arrangements sind reich an Klangfarben und Durchsichtigkeit. Wie lebendig ist doch Mozarts Musik und in ihrer Zeitlosigkeit so zeitgemäß.
„Kreationen“ nennt Intendant Gerard Mortier die Neuschöpfungen der RuhrTriennale, Genregrenzen will er überschreiten, Musik, Theater und Tanz verbinden, um neue Ausdrucksformen zu finden. Die Kreation „Sentimenti“, an der Mortier selbst als Dramaturg mitwirkte, verbindet eine Ruhrgebietsstory mit der Musik von Giuseppe Verdi. Ralf Rothmanns Roman „Milch und Kohle“ liegt dem Ganzen zugrunde, die Bühnenfassung erarbeiteten die Regisseure Johan Simons und Paul Koek mit dem holländischen Theater-Ensemble ZT Hollandia. Der Text spiegelt allzu stark das Ruhrgebietsklischee der 60er-Jahre. Ein Mann erinnert sich am Totenbett seiner Mutter an deren Romanze mit einem italienischen Gastarbeiter. Der Mann legt Platten auf und schwelgt in Erinnerungen. „Addio del Passato“ singt Violetta in Verdis Oper „La Traviata“. Die Musik löst Gefühle aus. Auch für diese Produktion wurden die Originalkompositionen eigens für ein kleines Instrumentalensemble bearbeitet. Verdis Arien erklangen live gesungen auf einer aus Briketts gebauten Bühne in der Jahrhunderthalle Bochum.
Schlicht ein Musical war „The Temptation of St. Anthony“ – ebenfalls eine der Kreationen. Sie lag in den Händen von Robert Wilson und in der ihm eigenen Art schuf er für die kirchenähnliche Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord ein farbenprächtiges Licht-Spektakel. Im Mittelpunkt stand ein stimmgewaltiger Gospelchor, für den die Komponistin Bernice Johnson Reagon neue Songs geschrieben hatte. Den roten Faden für die Handlung und die Songtexte lieferte die Legende vom heiligen Antonius. Naiv wirkte die darstellerische und tänzerische Seite – wer ein gutes Gospelkonzert erwartet hatte, kam voll auf seine Kosten.
Viel komplexer dagegen die „Metamorphosen der Melancholie“, eine Auseinandersetzung mit der 1621 erschienenen Schrift „Anatomy of Melancholy“ des englischen Gelehrten Robert Burton. Der Dirigent Thomas Hengelbrock mit seinem experimentierfreudigen Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble hatte diese Kreation für einen Kirchenraum in Essen entwickelt. Der Chor spielte eine Studentenschar, die den Ausführungen ihres Dozenten aufmerksam lauschte. Glänzend der Schauspieler Graham F. Valentine als kauziger „Doctor Melancholicus“. Dazu passend Madrigale, Lamenti und Instrumentalwerke aus dem 17. Jahrhundert. Thomas Hengelbrock hatte übrigens nur wenige Tage zuvor Henry Purcells Oper „King Arthur“, ebenfalls halbszenisch, aufgeführt. Was Hengelbrock mit seiner Sängerschar erarbeitet hatte, begeisterte durch Originalität. Zweifellos einer der Höhepunkte der Frühjahrssaison der RuhrTriennale. Mit großer Wirkung wurden hier einfachste theatralische Mittel eingesetzt – ein Abend, der tief bewegte. Grandios die Interpreten, die Instrumentalisten, der solistisch besetzte Chor sowie die Sopranistin Simone Kermes.
Starke musikalische Interpretationen zeichneten auch die übrigen Produktionen aus. Die „Kreationen“ oder beispielsweise das Oratorium „Saul“ mit einem exzellenten Solistenensemble und dem ChorWerkRuhr unter Frieder Bernius.
Außergewöhnliche Schauspielleistungen gab es bei Theaterproduktionen wie „Phèdre“ oder „Der seidene Schuh“. Die großen Ideendramen sind es, die Gerard Mortier in Industriehallen inszenieren lässt, das bürgerliche Drama findet er für diese Kulisse ungeeignet. So faszinieren ihn Werke wie Mozarts „Zauberflöte“ oder Messiaens „Saint Francois d’Assise“, deren Neudeutungen in der Bochumer Jahrhunderthalle im September ihren ausgefallenen Rahmen finden werden. Flexibel kann diese inzwischen zum Festspielhaus avancierte Halle immer wieder neue Bühnenräume schaffen. Auch dies wie die künstlerische Qualität, mag zum enorm gestiegenen Interesse an Karten beigetragen haben. „Ich möchte auf keinen Fall populistisch sein“, sagt Gerard Mortier, „aber ich bin wohl immer für populäre Kunst, das heißt, dass Kunst sich bei einem größeren Bevölkerungskreis durchsetzt“. Mit dem Mut zum Risiko, auch zum Scheitern, setzt der Intendant seine Ideen um, er hat die Neugierde geweckt. Ob zum jetzigen Erfolg nach der umstrittenen ersten Saison im Herbst 2002 auch die spritzige Werbekampagne beigetragen hat, lässt sich schwer nachweisen, aber Sprüche wie „Heiliger in Gebläsehalle verführt“, „Auferstehung durch Verdiarien“ oder „Frau von Ohrwurm gebissen“ haben auch bei einem jüngeren Publikum für Aufmerksamkeit gesorgt. „Ecstasy in Mozartkugeln“!