Der Regisseur Calixto Bieito hat sich im Musiktheaterbetrieb positioniert durch die von ihm im Kontext der historischen Handlungen gezeigte Gewaltförmigkeit. Verbunden damit erschien der exzessive Einsatz von menschlichen Körpersäften auf den Bühnen und den Körpern des singenden Personals. Das Ästhetisch-Ätherische wird von ihm durch Konfrontationen mit den im Prinzip bekannten Realitäten paralysiert. Der durch eine intensiv christkatholische Kindheit und Jugend sozialisierte Katalane ist durchdrungen von der Obsession, dass die wirkliche Welt heute härtere Bilder brauche als die mit Rokoko-Kostümen ausstaffierten und in Pastelltöne getunkten Bühnendekorationen.
Deshalb zeigt Bieito zu Opern, die in der Regel zumindest auch von Liebe handeln, in freier Nachfolge von Antonin Artauds ‚Theater der Grausamkeit‘, exzessiv Gewalt und Sex sowie stets die kleinlichen, hässlichen und grässlichen Seiten der großen und schönen Gefühle. Auf wohlfeile Weise sind die Haupt- oder Randfiguren meist Opfer einer gnadenlosen und bevorzugt spätkapitalistischen Gesellschaft. Das vorwiegend protestantisch geprägte Publikum in Basel hatte also die berechtigte Erwartungshaltung, dass Bieito ihnen die Eifersuchtstragödie des altvenezianischen Shakespeare-Mohren Othello blutig brutal kathartisch vor Augen führen werde. Es ist – in voller Höhe – auf seine Kosten gekommen.
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Mit deutlichen Schürfgeräuschen hebt sich der eiserne Vorhang im Theater Basel, um den Blick auf die finstere Bühne von Susanne Gschwender freizugeben. Eine dunkle Menschenmenge duckt sich unter einem schweren Kran. Die Leute, die den gegen eine islamische Flotte siegreichen Feldherrn bejubeln wollen, rücken aus der Tiefe einer Hafenanlage vor zur Absperrung aus übereinandergeschichteten Nato-Draht- Rollen. Die Menge wird mit Entsetzen gewahr, dass der Held kurz vorm Ziel doch noch havarieren könnte. Sie ist dann erleichtert und nimmt an seinem Triumph teil – mit Fesseln an den Handgelenken. Die Choreographie der winkenden Hände ergibt das starke Bild eines perspektive- und trostlosen Advents.
Otello – der stämmige litauischer Tenor Kristian Benedikt mit durchaus passenden leichten Aufrauhungen in der durchschlagenden Stimme – ist der Mann der Ausgesperrten: einer, der wie sie von einer gegenüberliegenden Küste gekommen ist, es aber, anders als sie, im Zielland längst zu etwas gebracht hat (immerhin wurde er in der neuen Heimat Chef der Armee). Aber er blieb emotional unsicher – geprägt von Minderwertigkeitsgefühlen und daher zur Despotie neigend. Als autoritärer Charakter passt er gut an die zweithöchste Stelle der sozialen Hierarchie und ist ein brauchbarer Populist. Bei der Siegesparty lassen sich die Zaungäste widerspruchslos vom reichlich strömenden Champagner bespritzen. Sie bekommen nicht einmal Brosamen vom Tisch der Upper class ab, nur Tropfen (in der zweien Halbzeit auch nicht zu knapp Blutspuren). Die sich feiernden Offiziere der Sieger gerieren sich wie die Vettels nach einem Rennen. Sie führen halt heutiges Heldenleben vor.
Rasch schälen sich die konträren Männer-Charaktere heraus. Dafür sorgt zuvorderst die zugleich ausladende und lakonische Musik Giuseppe Verdis, die Gabriel Feltz – wie schon eingangs den heftigsten Orchestersturm – scharf konturiert: In den Passagen ihrer knappen Härte wie bei Diskursen der Verstrickung in die Intrige, den Episoden der Erinnerung an die Momente der Verliebtheit oder in den langen Minuten der Gebete entwickelt sich der Tonsatz wirkungsmächtig. Als Zweck heiligt er das Mittel, die ungeheure Hinterhältigkeit des Jago und den Sturz des aus eigenem Verdienst mächtig gewordenen Manns unter die Haut fahren zu lassen. Dass dieser „Otello“ ein so starker Abend wurde, war jedenfalls in hohem Maß auch Verdienst des Basler Sinfonieorchesters und seines Dirigenten, dem Fels in der Brandung der Sturmmusiken oder dann auch wieder ruhenden Pol der Fermaten im Strudel der Eifersucht. Mit Simon Neal verfügt die Produktion zudem über einen Jago der Extraklasse – zum vorzüglich geführten Bariton kommt da eine Körpersprache der servilen Verbiegungen und der klammheimlichen Selbstüberschätzung. Kleine beiläufige Gesten charakterisieren einen Menschen, der sich das eigentlich menschlich Unmögliche zumutet, um sein menschenverachtendes Ziel zu erreichen. Da hätte es die so weitgehende Bearbeitung der Obertitel eigentlich nicht gebrachst, nach denen Jago gar „den Urschlamm in sich spürt“. Gestützt auf diese Parole lässt er sich nicht nur von seiner Gattin Emilia das ominöse Taschentüchlein wie von einer Hündin apportieren, sondern vergewaltigt en passant auch Desdemona, die Braut seines Chefs.
Calixto Bieito, heuer Regisseur in Residence am Theater Basel, folgte einem Gedanken von Max Frisch: „Das allgemeinste Gefühl von Minderwert, das wir kennen, ist die Eifersucht, und der Griff auf beide Tasten, den Shakespeare hier macht, ist ungeheuer. Er deutet das eine mit dem anderen. (…) Der Eifersüchtige ist immer ein Mohr.“ Gestützt auf diesen Inszenierungsansatz musste der Heldentenor nicht mit schwarzer Schuhcreme aufbereitet werden. Ohnedies will die Produktion keinen historischen Realismus pflegen. Übrigens auch keinen zeitgenössischen. Die Anspielungen auf die angelandeten Boat People und das Mittelmeer als den monströsen Friedhof des ökonomisch mächtigen Europa sind und bleiben akzidentiell. Also soziales Kolorit (nicht Substanz). Deshalb wirkt auch nur im ersten Moment irritierend, dass Otello mit der annektierten Braut aus dem Hafengelände nicht wenigstens in ein Hotelzimmer abgeht, sondern vorm Kran seine Beziehungskiste verhandelt. Allerdings nur musikalisch als Verweis auf Liebestod in der Ekstase – darstellerisch als tristes Gewahrwerden der Zerrüttung, noch ehe die Liebe richtig in Fahrt gekommen ist. Konsequent im Sinn dieser Uminterpretation ist dann, dass er nicht gemeinsam mit ihr abgeht, sondern in Gegenrichtung.
Das schwere Ladegerät erscheint übrigens schon vorsorglich gelb wie die Eifersucht. An seinem Haken wird kurzerhand einer gehenkt und damit klargestellt, wie wenig ein Menschenleben in Otellos Machtbereich zählt. Und wie locker ihm die Hand zum Schlag sitzt, stellt Kristian Benedikt sowohl gegenüber Untergebenen wie mit Desdemona unter Beweis. Die junge Lady aus der venezianischen Hocharistokratie kommt im locker sitzenden Pelzmantel und weiß eigentlich, was sich bei einem Helden schickt. Aber sie kann mit den Beteuerungen ihrer Ergebenheit und Treue das Unheil so wenig abwenden wie mit der Selbstbetäubung durch Alkohol beim Eintreffen des Gesandten aus Venedig oder mit ihren Gebeten – und Svetlana Ignatovitch betet so klangschön vom hohen Gestänge aus wie sie formvollendet über die Schienen torkelt und das erwürgte Leben endet.
Otello schließlich – getäuscht und in eine Parallelwirklichkeit getrieben, degradiert und gesellschaftlich isoliert – flüchtet sich auf den Ausleger des Krans zum einzigen letzten Schritt, der ihm bleibt. Bieito hat, mit sehr viel genauerer Personenführung als bei vielen seiner früheren Produktionen, die Seelennöte und das Beziehungsdrama als etwas sehr Privates in einem schmerzhaft öffentlichen Raum preisgegeben. Er macht auf seine pointierende Weise Bildzeitungs-Oper für die Besserverdienenden. „Dennoch ist ernsthaft anzuzweifeln, dass Calixto Bieito die Oper nachhaltig trivialisieren kann“, bemerkte Susanne Benda in einer großen Apologie der Arbeit des Regisseurs (ÖMZ 6/2013). „Die Kunst des Musiktheaters ist in ihrer Feinheit und Komplexität zu stark, als dass einer mit der obsessiven Vehemenz eines Bieito ihre Qualitäten einfach aushebeln könnte. Wahrscheinlicher ist, dass in fünfzig Jahren beim Blick zurück auf die Entwicklung der Oper der wilde Katalane aus anderen Gründen eine relativ marginale Figur gewesen sein wird – und in die Rezeptionsgeschichte eingehen wird als ein Regisseur, dessen Obsessionen gerade weil sie oft allzu grob, radikal, direkt und physisch waren, Vielen erst bewusst machte, wie differenziert die Gefühlswelten der Oper eigentlich geartet sind. Dass (Musik-)Theater Grenzerfahrungen vermitteln kann und sollte, kann man bei Bieito allerdings lernen.“