Italiener, die – in Kunst oder Geographie – die Weltgeschichte in Bewegung bringen, müssen nicht unbedingt aus Neapel kommen. Verglichen mit der brodelnden Stadt am Vesuv mutet die Hafenstadt Genua im Nordwesten an wie eine kühle hanseatische Schöne. Aber auch wer in Genua zur Welt kommt, will in diese hinaus und zum Weltruhm: Columbus, Paganini. Und Fabio Luisi.
Die Neuigkeit kam Mitte Januar dieses Jahres wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Fabio Luisi wird in Dresden Generalmusikdirektor der Staatsoper und Chef der Sächsischen Staatskapelle, als Nachfolger des Interims-Chefs Bernhard Haitink und des designierten, vor drei Jahren plötzlich gestorbenen GMD Giuseppe Sinopoli. Vertragsbeginn für Luisi: 1. Mai 2007. Dabei schienen seine Positionen und Kompetenzen für die nächsten fünf, sechs Jahre bereits in harmonische Balance gebracht und festgezurrt.
Das halbe Jahr anwesend
Noch bis 2009 hatte er sich eigentlich als Chefdirigent dem Sinfonieorchester des Mitteldeutschen Rundfunks versprochen. Ab Oktober 2005 und erst einmal bis 2010 wollte er parallel dieselbe Funktion bei den Wiener Symphonikern übernehmen.
Ein halbes Jahr müsse der Chef in seinem Haus anwesend sein, war Luisis Überzeugung, sonst mache die Arbeit keinen Sinn. Der MDR in Leipzig und die Symphoniker in Wien, das hätte also knapp in den Kalender eines Jahres gepasst. Beide Häuser hätten stolz auf ihren Chef und der hätte auf seine beiden Orchester stolz sein können, deren Rang und Ausstrahlung durch nichts zu relativieren ist.
Der Rundfunk in Leipzig wird nicht versäumt haben, seinem in aller Welt begehrten Musikchef die allerbesten Arbeits- und Lebensbedingungen zu schaffen. Auch in Wien wird man darin nicht müßig gewesen sein. Aber dennoch: Es gibt auch in der Musik einen Bereich des symbolischen, des mythischen Nimbus, der oberhalb jeder berechenbaren Rangordnung liegt. Staatskapelle und Oper in Dresden mit dem einschüchternden Gewicht ihrer Geschichte und Geltung sind dort angesiedelt. Die Einladung in den Zirkel der Konkurrenzlosen duldet kein Zögern und Verweigern. Also wird Fabio Luisi dem MDR nur noch bis 2007 als Chef zur Verfügung stehen. Das (ohnehin hypothetische) Halbjahressoll an Präsenz wird er dann zwischen Dresden und Wien aufteilen.
Wird er? Hielte er sich strikt an diese Polarisierung, wäre Luisi seit der Erfindung des modernen Star- und Reisedirigenten (also seit rund 130 Jahren) die erste Ausnahme in der Zunft der musischen Welteroberer. Ernsthaft wird das – Verträge hin oder her – kein Arbeit- oder Auftraggeber von ihm verlangen. Luisis Karriere ist sowieso ein Sonderfall, eine Rarität. Weder ist zu erkennen, dass eine weltmächtige Agentur ihn mit dem sonst üblichen Propagandagetöse zum Shooting Star manipuliert noch dass ein Medienmogul ihn zum Orchester-Champion gepuscht hätte.
Wenn Luisi von sich aus der Typ des geborenen Aufsteigers ist, dann durch die Sicherheit in der Anwendung seiner Mittel. Er kann es sich leisten, leise, zurückhaltend, unspektakulär zu sein. Der MDR-Werbeslogan „Reservieren Sie bei Leipzigs bestem Italiener“ klingt, gemessen am branchenüblichen Marktgeschrei der Super-Star-Strategen, wie familiäres Understatement. 44 Jahre ist Luisi alt. In seinem Metier gilt er noch als ein „Junger“.
Am Konservatorium seiner Vaterstadt Genua hat er mit dem Klavierunterricht angefangen, bis zum Examen. Bei Aldo Ciccolini, dem Liszt-, Saint-Saens- und Impressionismus-Experten, setzte er in Paris seine Studien fort. Erfahrungen mit der Oper verlockten ihn zu dem Entschluss, Dirigent zu werden.
Viele werdende Maestri, auch die renommiertesten wie Abbado, Mehta, Sinopoli, hat es nach dem deutschsprachigen Mitteleuropa gedrängt und dann nach Wien, in die Stadt Sigmund Freuds, der Sezession und des Dirigentenmachers Hans Swarowsky. Luisi aber ging zur weiteren Ausbildung nach Graz und war für vier Jahre Dirigierschüler des kroatischen Altmeisters Milan Horvath. Am Grazer Opernhaus machte er sich, als Studienleiter und Kapellmeister, mit einer kunterbunten Vielfalt von Opern, Operetten und Balletten vertraut.
Ein Theatermann
Die Berufungen an die größeren und größten Opern- und Konzerthäuser der Welt trafen Schlag auf Schlag bei Luisi in Graz ein. Bevor er als Opern-Maestro abgestempelt war, verschaffte er sich in aller Welt auch als Konzertdirigent einen Ruf. 1996 holte der MDR ihn als einen von drei Hauptdirigenten des Sinfonieorchesters und Chores nach Leipzig. In der Saison 1999/2000 ging die Chefposition auf ihn allein über. Als Udo Zimmermann Intendant der Deutschen Oper Berlin wurde, wollte er Luisi als seinen GMD mitbringen. Das Vorhaben scheiterte an privaten Eitelkeiten, konkurrierendem Egoismus und der notorischen Inkompetenz hauptstädtischer Behördlichkeit.
Zum Verdi-Gedenkjahr 2001 bereicherte Luisi die einschlägige Diskographie um drei „interessante“ und nicht nur verkaufssichere Opern-Spezialitäten aus der Werkstatt des Komponisten: „Alzira“, „Jerusalem“ und „Aroldo“. Mit Temperament, Leidenschaft, Passion bringt er sie zum Glühen. Kein Zweifel, er ist ein Opern-, ein Theatermann.
Es wäre durchaus zutreffend, wollte man die paradoxe Auffälligkeit seines Wesens dadurch bestimmen, dass es von unaufdringlicher Eleganz und nobler Zurückhaltung ist. Noch richtiger wäre die Feststellung, dass ihm ein äußerlich klein erscheinender Aufwand genügt, um die größten Wirkungen auszulösen. Am Orchesterpult gibt er sich dabei keineswegs minimalistisch, geschweige pedantisch. Er tritt wie ein graziler Luftgeist ins Bild, aber vor einem Riesenapparat von 180 Chorsängern und Orchestermusikern kann er gewaltig weit ausholen. Er ist ein präziser, wegkundiger Spielleiter und Pilot seines Ensembles.
Aus seiner Zusammenarbeit mit dem MDR ist eine Reihe von CDs bereits hervorgegangen: Berlioz, Liszt, von Mahler die düstere, apokalyptische Sechste. Luisi will keiner bequemen Erwartung gefällig sein. Die CD-Reihe wird fortgesetzt, auch mit Mahlers Achter. Und mit dem Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ von Franz Schmidt. Es setze die deutsch-österreichische Linie Brahms-Bruckner konsequent fort, meint Luisi.
Aufstieg gegen alle Trends
Der vom mondänen Jahrmarkt der Eitelkeiten fast unbemerkte Aufstieg des Fabio Luisi scheint gegen alle Trends gerichtet und nahezu anachronistisch. Luisi ist ein unbestechlicher Sachwalter seines Fachs und doch nicht ohne stille, nachhaltige Magie. Um ihn ist kein PR-Geschrei, trotzdem verschafft er sich Gehör.
Nach seiner bisherigen Laufbahn zu urteilen, setzt er sich mit der Insistenz der sprichwörtlich langsam, aber schrecklich fein mahlenden Gottesmühle durch. Wer darüber nachdenkt, spürt ein Dilemma. Schön altmodisch und anheimelnd wäre es, Luisi hielte sich an sein Credo und konzentrierte seine Kraft ein ums andere Halbjahr auf seine beiden Arbeitsschwerpunkte Dresden und Wien. Sonst nichts oder doch nur wenig anderes, etwa Leipzig.
Andererseits kann man möglichst vielen Orten auf der Welt, wo Musik gemacht und gehört wird, so viel Metiersicherheit und Universalität nur wünschen. Das 21. Jahrhundert wird die ihm gemäßen Kompromisse schon finden und erfinden und Gewinn- und Verlustrechnung auf seine Weise austarieren.