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Charlotte (Boshana Milkov) schaut aus einem Fenster am kniend-verzweifelnden Werther (Mirko Roschkowski) vorbei. Stadttheater Bremerhaven.
Charlotte (Boshana Milkov) schaut aus einem Fenster am kniend-verzweifelnden Werther (Mirko Roschkowski) vorbei. Stadttheater Bremerhaven.
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Ein „Brandraketen“-Seelenkrimi – „Werther“ am Stadttheater Bremerhaven

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Das erste Bild verrät noch nichts von der Spannung, die sich im Laufe der neuen Inszenierung am Stadttheater Bremerhaven von Jules Massenets Erfolgsoper „Werther“ so soghaft entwickelt. Eine große Schwester – Charlotte – versorgt einen Haufen kleinerer Geschwister, weil die Mutter gestorben ist. Ihr hat Charlotte versprochen, den Geschäftsmann Albert zu heiraten. Soweit so unverstrickt unglücklich. Dazwischen gerät aber der befreundete Künstler Werther, der sich unsterblich in Charlotte verliebt. „Er tickt nicht richtig“, werden die Freunde von Charlottes Familie über ihn sagen. Dann überrumpeln pure Emotionen die geordnete Bürgerlichkeit.

Das 1886 entstandene, 1892 in Wien uraufgeführte „Drame lyrique“ wird in der Regie von Sam Brown aus einer eigentlich reichlich überholten Dreiecksgeschichte – die verheiratete Charlotte weist Werther zurück, Werther erschießt sich – zu einem überragend packenden Seelenkrimi. Dazu verhilft auch die musikalische Leitung von Marc Niemann, der die subtil eingesetzten Leitmotive ebenso klar herausarbeitet wie ein im besten Sinne mitreißendes Pathos und sich damit in die seit 1970 ungebrochen erfolgreiche Aufführungsgeschichte einreiht. Diese Musik, zum Teil süßlich, verführerisch und deutlich in der „Belle Époque“ verankert, bleibt immer auch Geschmackssache. Dabei ist es überragend, wie Niemann es schafft, die Katastrophe ebenso im Untergrund lauernd wie direkt ausbrechend herauszuarbeiten.

Treffsichere Psychogramme

Goethes 1774 entstandener Kultroman in dem der junge Dichter seine unglückliche Liebe zu der verheirateten Charlotte Buff verarbeitete, ist nicht nur Maßstab und Vorbild aller unsterblich Liebenden, sondern auch noch immer aktuell. Sowohl Regisseur Brown und Dirigent Niemann bieten in Zusammenarbeit mit den Sängern die nie veraltenden menschlichen Psychogramme. Die Reihe der fabelhaften Solisten beginnt mit Boshana Milkov als Charlotte, die aus ihren großen Gesängen eine überwältigende Menge von zerrissenen und unentschiedenen Seelenregungen herausholt, gefolgt von Mirko Roschkowski als Werther. Dessen leuchtender Tenor wirkt charismatisch, der Sänger versteht es für diese Riesenpartie perfekt, aus seinem Timbre und seinem Schmelz den unter die Haut gehenden, so zerstörerischen Inhalt zu formen. Die Gratwanderung zwischen Werthers Liebe und seinem geradezu terroristischen Wahnsinn – er will ja leiden – verkörpert er durchgehend packend, ja manipulativ. „Brandraketen“ hat Goethe beide genannt. Dazwischen der brave, moralische und auch zynische Ehemann Albert (Marcin Hutek) und die wirbelig lustige, in Werther verliebte kleine Schwester Sophie (Viktoria Kunze).

Szenisch ergreifender Niedergang

Es sind bewegende Bilder, die Brown schafft, wenn er Albert und Charlotte zu Statuen erstarren lässt; wenn er immer wieder die Schürze als Symbol dieses (gar nicht vergangenen?) Milieus in Wetzlar hervorholt; wenn er uns am Ende den Blick in die sich bewegende Wohnung erlaubt (toll das Bühnenbild und die Kostüme von Alex Lowde) und wir sehen müssen, wie tot das alles ist; wenn die Briefe Werthers sich im Kühlschrank in der Garage befinden – das Ganze scheint zudem noch zu erfrieren – und Albert sie da findet; wenn die beiden Liebenden eine Vergangenheit beschwören, die sie gar nicht hatten; und wenn Werthers Tod nicht in den Armen von Charlotte geschieht, sondern sie sich an seine Klamotten klammert und er – sterbend – die gemeinsame Verklärung zelebriert: „Du glaubst, mein Leben endet? Kann es wohl enden, da es erst begann?“


Die nächsten Aufführungen sind am 15., 23. und 28. April im Stadttheater Bremerhaven.

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