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Konzert der Dresdner Musikfestspiele mit „Elvira“ von Amalie von Sachsen mit den Dresdner Kapellsolisten im Japanischen Palais. Foto: Oliver Killig
Konzert der Dresdner Musikfestspiele mit „Elvira“ von Amalie von Sachsen mit den Dresdner Kapellsolisten im Japanischen Palais. Foto: Oliver Killig
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Ein Fest für die Elbe und für Europa

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Bei den 45. Dresdner Musikfestspielen gab es keinen Besucherschwund
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Mit ihren eigenen Veranstaltungen und den im Programmangebot geführten Kooperationskonzerten ergaben die Dresdner Musikfestspiele, auferstanden aus den für die Kultur extrem harten Pandemie-Ruinen der beiden letzten Jahre, vom 11. Mai bis 10. Juni ein fulminantes Spektrum an Konzert-, Musik- und Ortsfarben. Zum Beispiel in dem von Intendant Jan Vogler seinem Instrument gewidmeten Festival-Schwerpunkt Cellomania 2.0. Mehrfach musste man bei Simultanterminen wählen, wie am Morgen des 22. Mai zwischen der Sächsischen Staatskapelle unter ihrem Noch-Chefdirigenten Christian Thielemann mit Alexander von Zemlinskys „Lyrischer Symphonie“ in der Semperoper und dem hr-Sinfonieorchester unter Paavo Järvi und Jan Vogler mit Dvorak und Beethoven.

Manche hatten wider Erwarten gar keinen Termin, wie ausgerechnet Ivor Bolton, Chefdirigent des Dresdner Festspielorchesters. Der artikulierte bereits im Januar seine Betrübnis darüber, dass es für ihn mit dem auf epochenbezogenen Originalinstrumenten spielenden Klangkörper in der 45. Saison mit dem Motto „Zauber“ keinen Auftritt geben würde, während 2021 noch einige Beet­hoven-Programme möglich waren. Im zweiten Corona-Winter schien es aussichtslos, die Musizierenden aus verschiedenen Ländern und Kontinenten zusammenzubringen. Jan Vogler verschob die szenische „Zauberflöte“ mit dem Dirigenten Jean-Christophe Spinosi und dem Dresdner Festspielorches­ter, wobei das Abschlusskonzert am 10. Juni mit Beethovens neunter Sinfonie unter David Robertson doch stattfinden konnte. Das Kartenkapazitäten-Crescendo vom in sächsischen Regionen besonders langen Lockdown-Nullstand in die erst im Frühjahr genehmigte Vollverfügbarkeit des Platzangebots stellte Marketing und Vertrieb vor ständige Herausforderungen. Bei Veranstaltungen in großen Räumen mit etwa 60 Prozent Publikumsbelegung war die Freude über den erreichten Stand des Verkaufs weitaus größer als das Bedauern über die Lücken in den Reihen.

Internationales Forum für regional Akzentuiertes

Nur die Verantwortlichen hatten den vollständigen Überblick auf die 65 Konzerte an 25 Spielstätten. Sogar hartgesottene Dauergänger konnten sich nur Schneisen nach individuellen Auswahlkriterien legen. Klagen über deshalb zwangsläufige Versäumnisse waren nicht angebracht, denn so gut wie immer war das Erlebbare großartig oder mindestens exzellent. Regional akzentuierte Feierkonzerte, wie das Mozart-Programm mit dem Pianisten Peter Rösel am 6. Februar zu dessen 77. Geburtstag und zum 50. Todestag des Kreuzkantors Rudolf Mauersberger, erhielten im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele ein internationales Forum. Der regionale Fokus setzte Akzente neben Auftritten des Orchesters der Mailänder Scala unter Riccardo Chailly, des Budapest Festival Orchestra unter Iván Fischer, des Münchener Kammerorchesters und des Chamber Orchestra of Europe unter Sir Simon Rattle. Zu einem besonderen Höhepunkt geriet das Konzert des London Philharmonic Orchestra mit Thomas Adès am 30. Mai. Dass der Brite oft eigene Partituren dirigiert, ist an sich nichts Ungewöhnliches, wohl aber die Uraufführung der Musikfestspiele-Auftragskomposition – eine Suite nach Adès’ Shakespeare-Oper „The Tempest“ (2004) – und Adès’ dem Schöpfungsbericht der Genesis folgendes Klavierkonzert „In Seven Days“ mit dem für Víkingur Ólafsson eingesprungenen Nicolas Hodges. Die anti-esoterische und dabei ganz spielerische Haltung des Konzerts wurde im akustisch herausragenden Kulturpalast auch ohne das eigentlich zu „In Seven Days“ gehörige Video von Tal Rosner zum Ereignis. Mehr sogar – nach der Pause – Tschaikowskis Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36: Adès befreite den Russen mit dem auf ihn eingeschworenen Klangkörper von allen oft in Interpretationen ihren Widerhall findenden Klischees, also der perpetuierten Schwermut, der Melancholie und einer Aura, die emotionale Exaltation fast immer mit Tragödie gleichsetzt. Vielmehr entdeckt Adès in Tschaikowski einen Gleichgesinnten betreffend die Fülle von Farben, motivische Nervosität und regsamen Ausdruck, der nie zu leicht oder gar unverbindlich wird. Trotzdem blieb das mögliche Drama hinter dem brillanten Lack der Klänge präsent.

In der ARTE Mediathek: Zyklus Cellomania 2.0 

Wenige Worte muss man über den Zyklus Cellomania 2.0 verlieren, die „lange Nacht des Cellos“ steht in der ARTE-Mediathek. Der Auftritt von Vadim Gluzman (Violine), Johannes Moser (Violoncello) und Andrei Korobeinikov (Klavier) enthielt am 25. Mai mit den spontan ins Programm genommenen „Mozart-Augenblicken“ des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov eine klingende Solidaritäts­adresse gegen den Krieg. Die Kriegssituation war während des Festivals immer präsent, ohne die Atmosphäre allzu drückend werden zu lassen.

Unter den vielen Locations der Musikfestspiele von A (Alter Schlachthof) bis Z (Zentralwerk, im Zweiten Weltkrieg eine Rüstungsfabrik) ist das Palais im Großen Garten das imposanteste und typischste, zumal wenn es auch um die feudalen Baurelikte Dresdens geht. Von den regionalen Klangkörpern waren die Dresdner Kapellsolisten unter Helmut Branny in einem latenten Marathon auch dort aktiv. Sie wurden dem Tenor José Cura beigesellt, sie feierten Rösel und stellten nach etwas zu gewichtigem Beginn mit idealen Setzungen von Tempo, Dichte und Brio die Opern­entdeckung „Elvira“ (1821) vor. Deren Komponistin Amalie von Sachsen (1784–1870) schaute sich in Italien das formal-melodische Rüstzeug à la Rossini zu Opern auf eigene Texte in italie­nischer Sprache ab. Am Hofe, bei ihren Standesfreunden und an bürgerlichen Musiktheatern erhielt sie für ihr Schaffen viel Anerkennung. „Elvira“, eine von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ inspirierte Belcanto-Oper, ist kurzweilig und melodienselig. Überhaupt: Stimmenthusiasten kamen dieses Jahr voll auf ihre Kosten, garniert von Sprachindividuen wie Wolf Wondratschek und Donna Léon. Es ehrt die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber, dass sie mit der Reihe „Lied in Dresden“ der in großen Sälen aufgrund mangelnder Rentabilität überall marginal werdenden Gattung besondere Aufmerksamkeit schenkt. Der in Nürnberg fest engagierte Bariton Samuel Hasselhorn und die Pianistin Doriana Tchakarova kamen mit einem romantischen Programm von Loewe bis Wolf in die Abfüllhalle von Schloss Wackerbarth nordwestlich von Dresden. Musiktouristen waren dort am Männertag, wie man in Mitteldeutschland den Feiertag Chris­ti Himmelfahrt nennt, kaum zu sehen. So blieb das regionale Publikum aus den Gemeinden der Weingegend und den Goldstaub-Quartieren Dresdens unter sich. Es handelte sich ausnahmslos um Musikkundige, die genau wissen, wer und warum derzeit an der Mailänder Scala, in Prag oder am Pariser Théâtre Châtelet unterwegs ist und an der Semperoper, in Wackerbarth oder im Palais Brühl-Marcolini zwangsläufig Erfolg haben muss.

Nischenerlebnisse, die es woanders so nicht gibt

Jan Vogler spreizte den Angebotsspagat sogar noch weiter: Felix Räubers Medialität und Authentizitätssuche zur Synthese bringendes Projekt „Wie klingt Heimat?“ und das Wandelkonzert Sound & Science „Visual Music“ im Deutschen Hygienemuseum markieren die Pole, zwischen denen die Dresdner Musikfestspiele Elbe und Europa zueinander in Beziehung setzen. Tatsächlich haben hier die Topseller der Klassikszene, Stars, orches­trale und vokale Spitzenkräfte wie die Spiralfontänen der Brunnen im Zwinger und am Albertplatz einen weiten Radius. In vielen Kooperationskonzerten gibt es auch an anderen Orten nicht erlebbare Nischenereignisse. Ein solches Angebot richtet sich an autonome Enthusiasten und brächte ohne Pandemie noch mehr Persönlichkeiten der internationalen Musikgegenwart wie Barbara Hannigan, John Adams und zuletzt Thomas Adès in eine Stadt, die mit Alter Musik, Barock und satter Spätromantik reichlich zu tun hat. Das dieses Jahr zum ersten Mal von den Dresdner Musikfestspielen nachgeschobene September Festival vom 1. bis 4. September 2022 kündigt mit dem Piitsburgh Symphony Orchestra, dem Philadelphia Orchestra und dem Cleveland Orchestra Gastspiel-Auftritte von gleich drei US-amerikanischen Spitzenklangkörpern an. Bis dahin gibt es im muskfestspielfreien Sommer die Wiedereröffnung der renovierten Felsenbühne Rathen durch die Sächsischen Landesbühnen und allerlei musikalisches Elbflimmern.

Weil dort die Freude über die 100-pro­-zentige Öffnung der Veranstaltungsorte so riesig war, vernahm man aus dem Festspielbüro keine Stellungnahme zur Sorge über den Publikumsstrom wie aus anderen Städten. Dass es in den letzten Monaten auf der von Vogler während der Pandemie gegründeten Streaming-Plattform Dreamstage etwas ruhiger zugeht, muss man als gutes Zeichen und Plädoyer von Veranstaltern und Publikum für physische Veranstaltungen nehmen. Vom Besucherschwund sind die Dresdner Musikfestspiele nicht betroffen, die Platzausnutzung lag bei 85 Prozent.

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