Wie der Klang entsteht. Wie er lebt und stirbt. Wie er sich ändert. Wie er sich mit anderen Klängen trifft. Wie sie miteinander streiten, wie sie sich versöhnen. Abenteuer des Klangs. Das innere Leben des Klangs. Die Zauberkunst des Überraschenden, Unerwarteten, Unbekannten. Klänge außerhalb von Melodien, Themen, Idiomen, Stilen. Freie Klänge. Das alles konnte man hören auf dem zwanzigsten Kaleidophon-Festival in Ulrichsberg, dem kleinen oberösterreichischen Dorf in der Nähe der deutschen und tschechischen Grenzen.
Am Anfang waren die legendären Musiker der britischen freien Improvisation zu hören: das RoToR Trio, mit Paul Rutherford (Posaune), Keith Tippett (Klavier) und Paul Rogers (E-Bass). Ihr Spiel war auch nach 40 Jahren Zusammenarbeit noch überraschend: präpariertes Klavier, Streichbewegungen, ungewöhnliche Bassartikulation, perfekte Harmonie – besonders zwischen Tippett und Rogers –, ein berauschendes Spektrum der Klänge, die auch der die Posaune ohne Dämpfer spielende Rutherford zu bieten hatte.
Am dritten Tag trat Alexander von Schlippenbach im Soloprogramm am Klavier auf. Spontan, zweifellos frei, spielte er eine ganze Stunde, ohne Themen oder Muster. Wenn man darauf achtete, konnte man das Innenleben der Klänge hören.
Es gibt das Klischee, die freie Improvisation mit „ungewöhnlichen Klängen“, der Abwesenheit von Melodien gleichzusetzen oder sie als verdünnte Materie mit seltsamen Eruptionen aufzufassen, kurz: mit bestimmten Klangeffekten – doch freie Improvisation ist nur eine Methode des Musikschaffens, die zu sehr verschiedenen Resultaten führen kann. Das ist vielleicht auf dem Kaleidophon am besten zu beobachten. Auch wenn, trotz allem, was oben geschrieben wurde, freie Improvisation wirklich so klingt, wie im Fall der so genannten Klangimprovisation, wo das Wichtigste der sonore Aspekt ist. So schien es beim Konzert von Phil Wachsmann (Viola, live electronics), Michael Bunce (Computer, Sampling) und Paul Lytton (Schlagzeug) zu sein. Während Wachsmann viele Arpeggi, Mikrotöne und ernste elektronische Umwandlungen des Klangs einsetzte, nutzte der berühmte Lytton selten die Standardausrüstung seines Drumsets, sondern verwendete verschiedenste Dinge, die wir sonst nicht als „Schlagzeug“ bezeichnen würden und arbeitete mit ganz einfachen Amplifikationen der Mikrofone; sie spielten zusammen mit Bunce, dessen Elektronik aber weniger interessant war.
Eine andere Seite der improvisierten Musik zeigten die Bands, die in der Tradition des Free Jazz spielten und sie mehr oder weniger entwickelten. Hier sollte man das Gary Hemingway Quartett nennen: der Leader (Schlagzeug), der Meister der kleinsten Geste, zeigte meisterliche Technik, atemberaubende Soli und führte das Ensemble kaum merklich, sodass man nur in plötzlichen Beschleunigungen die wunderbare Eintracht und den vielen Raum fühlen konnte, den er seinen Mitgliedern gab. Besonders Herb Robertson (Trompete) und Mark Helias (Kontrabass) haben das Publikum sichtlich begeistert.
Ganz dem klassischen Jazzidiom verhaftet war das Trio Fieldwork, dessen Konzert einen der Höhepunkte des Festivals darstellte. Die jungen Musiker aus New York spielten im Stile von Martin Medeski & Wood oder Vandermark Five – ein intelligenter, energetischer Jazz, der oft auf seine Geschichte und verschiedene Stilrichtungen anspielte. Vijay Iyer musizierte am Klavier auch rhythmisch, die Soli von Steve Lehman waren sehr klar und nur Tyshawn Sorey prahlte etwas mit seinen technischen Tricks auf dem Schlagzeug. An diesem Abend offenbarte sich eines der größten Nachwuchsensembles des jungen Jazz, was das Publikum genau fühlte.
Ein ganz anderes Gesicht der improvisierten Musik zeigte das Trio Radian aus Wien, das seit Jahren zu den erfolgreichsten Ensembles der elektronischen zeitgenössischen Szene gehört. Rhythmisch sehr präzise und trocken (Martin Bradlmayr, elektronisches Schlagzeug), im Bassregister minimalistisch und ausdrucksvoll (John Norman, E-Bass), und in der Elektronik kräftig, tief und dynamisch, skizzierte Radian ausgedehnte Klanglandschaften, die keinesfalls langweilten.
Man sollte auch die Misserfolge des Kaleidophons erwähnen. Das in der freien Improvisation beinahe schon mythische „erste Treffen“, bei dem Musiker zusammenwirken, die früher noch nie miteinander gespielt haben, gelang dieses Mal nicht. Andrew Cyrille auf dem Schlagzeug war selbstverständlich ohne Fehler, aber seine Verständigung mit Marco Eneidi am Altsaxophon baute sich nur sehr langsam auf. Er beherrschte durch seine Dynamik die Szenerie und irritierte Eneidi, der nur uninteressante, langatmige Phrasen hervorbrachte. Das Ianus Quintett dagegen spielte halb improvisierte, halb komponierte Musik – und beide Komponenten gaben keinen Anlass zur Freude. Und hier konnte man das erfahrene und humorvolle Publikum liebgewinnen: es äffte taktvoll – oder taktlos? – die kaum hörbaren Klänge der Musiker nach und reagierte auf alle außerszenischen Geräusche.
Was darüber hinaus beim Kaleidophon so einzigartig ist: Wieder einmal wurde Ulrichsberg für drei Tage eine Hauptstadt der improvisierten Musik, war es ein Fest für alle Musiker und Musikliebhaber, ein Ort, wo die Zeit für ein paar Momente stehen geblieben ist.