„Arabella“ ist ein „Konversationsstück“, angesiedelt in glücklicheren österreichischen Tagen, in denen der Monarch Franz Joseph den Untertanen ein heiles Fürstenfamilienleben vorspielte, seine Gattin Elisabeth („Sisi“) ihren chronischen Husten und die durch ihn erforderlichen Kuraufenthalte dazu nutzte, sich von Hof und Ehe zu emanzipieren. Die Uraufführung fand im Sommer 1933 in Dresden statt – als hätte es damals nichts Besseres zu tun oder zu lassen gegeben. In der sächsischen Hauptstadt waren Anfang März der GMD Fritz Busch und der Intendant Alfred Reucker aus den Ämtern gejagt worden. Es ging ziemlich genau so zu wie derzeit in der Türkei.
Da es in der Lyrischen Komödie „Arabella“ um Partnerwahl und die Alternativlosigkeit bei dieser geht, schien der Dortmunder Premierentermin durchaus passend gewählt: 24. September, 18:00 Uhr. Eine Minute nach Schließung der Wahllokale trat der Intendant Jens Daniel Herzog vor den noch geschlossenen Vorhang und verkündete einem in unterschiedlichen Lautstärken aufstöhnenden Publikum die erste Wahlprognose zur Bundestagswahl. Man durfte gespannt sein, was da nun parallel zu den sich zunehmend präzisierenden Wahlergebnissen mit dem alten Plot in Szene gesetzt würde.
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Ein pikantes Stück – hinsichtlich der von ihm kolportierten Frauenrollen, anberaumt am Abend eines Wahlsonntags. Also: beste Voraussetzungen eigentlich fürs Auffrischen oder Aufmöbeln der zumindest etwas angestaubt anmutenden Handlung. Zu ihr ist Richard Strauss ja eine betörend charmante Musik gelungen, die auch jetzt wieder verführerisch in die Ohren träufelte und die auf Wohlklang erpichten Seelen in Beschlag nahm. Die Dortmunder Philharmoniker präsentierten den süffigen und erotisch konnotierten Sound makellos, pointierten die Frivolitäten der karnevalstrunken koloraturenträllernden Fiakermilli Jeanette Wernicke und unterfütterten die exzessiv ausgesungenen konträren Aspekte der Schwesternliebe mit zarter Inbrunst. Die Bläser im symphonischen Verbindungsstück vom zweiten zum dritten Akt: superb. Gabriel Feltz sorgt vom Dirigentenpult mit klarer Zeichengebung für den hohen Perfektionsgrad und die angemessenen Dosierungen.
Im Laufe der mehr als zehnjährigen Entstehungsgeschichte des Werks arbeitete Hugo von Hofmannsthal ein leicht verwahrlostes Wiener Milieu heraus, das beiläufig der Operetten-Ära des jüngeren Johann Strauß ein Denkmal setzen wollte. Doch nach seinem relativ frühen Tod im Jahr 1929 erwies sich nicht nur eine mühsam aufrechterhaltene Operettenseligkeit als obsolet, sondern auch die Hoffnung auf ein einvernehmliches Miteinander der divergierenden gesellschaftlichen Kräfte in einer österreichischen Republik – die Austrofaschisten machten ihr den Garaus.
In Hofmannsthals heiter angelegten Beziehungsintrige und Komödie einer für immer untergegangenen Gesellschaft geht es um die richtige Wahl, die die hübsche Titelheldin eigentlich gar nicht hat. Arabellas spielsüchtiger Vater, der ausgediente Rittmeister Graf Waldner, ist hoffnungslos überschuldet. Daher soll Arabella, die ältere der beiden Töchter, reich verheiratet werden. Egal wie – z.B. an einen der drei Grafen Elemer, Dominik und Lamoral, die bei ihr anstehen. Aber alle Dreie sind halt allzu erkennbar Wiener Windbeutel. Da sich die Waldners noch nicht einmal standesgemäße Kleidung für Arabellas kleine Schwester leisten können, mischt die bei der Intrige zunächst in Männerklamotten mit – als kleiner Bruder. Die Uneingeweihten nehmen ihn als „Groom“ wahr, als Faktotum. Ohnedies offenbart sich eine ziemlich vertrackte Schwesternliebe. Sie beruht auf der Bewunderung der kleinen Zdenka für die schöne große Arabella – und auf Unterwerfung.
Die aber schlägt jäh in ein so eigenmächtiges wie egoistisches Handeln um, das die mit viel finanziellem Aufwand eingefädelte eheliche Verbindung von Arabella mit dem wie ein deus ex machina auftauchenden bärenstarken kroatischen Bärenjäger und hochpotenten Großgrundbesitzer Mandryka kurz vorm Gang zum Traualtar ernsthaft gefährdet: ‚Zdankerl’ befriedigt (allerdings im Dunklen) den Jägeroffizier Matteo, der es eigentlich auch auf Arabella abgesehen hat, aber – da nicht hinreichend solvent – nicht in die Endrunde der Bewerber gelangt; ersatzweise wurde er von Zdenko mit gefälschten Briefen bei Laune und vom Suizid abgehalten. Am Schluss aber, nach manch operettenüblicher Irrung und Wirrung, erhält die kleine Schwester sogar mit dem Segen der Eltern diesen feschen Leutnant Matteo, den sie eh schon hatte – und Arabella den Mandryka, den Neffen eines Regimentskameraden des Vaters. Der von der Geschichte ramponierte Klein- und Geldadel ist wieder ganz bei sich.
Jens-Daniel Herzog rückte die Handlung gut hundert Jahre näher an die Gegenwart heran, etwa in die Ära Bruno Kreiskys (warum nicht, sehr viel näher liegend, in die Kurt Waldheim-Jahre?). Die ersten beiden Akte spielen in einem schmucklosen Flur vor einer Stuhlreihe. Hinter Milchglas deuten sich im Hintergrund, ganz wie es das Libretto wünscht, ein Spiel-Salon an bzw. der Zugang zu einem Ballsaal; der dritte Akt dann im breiten kalten Stiegenhaus eines Hotels. Mit prägnanter Personenführung nach Mustern der Boulevard-Komödie und der Vorabend-Soaps sorgt die Inszenierung für scharfe Konturen der Protagonisten. Mutter Adelaide Waldner – Almerija Delic ist autoritätshörige Untertanin in Reinkultur – lässt sich dabei von den nicht hinreichend ausgelasteten aristokratischen Verehrern der bildschönen Tochter die schon etwas welken Arme küssen und auch sonst anfassen. Nicht minder gekonnt zeigt und singt Morgan Moody die verrutschte Würde des Grafen Waldner, der bessere Tage gesehen hat. Beim kräftigen Händedruck des überraschend zu seinem Glück hereinschneienden Kroaten reißt er entsetzt die Augenbrauen hoch – vor Angst, er könne in den nächsten Tagen die Spielkarten nicht mehr halten.
Der Mandryka aus den Wäldern des Balkans ist in Gestalt von Sangmin Lee ein optisches und stimmliches Ereignis. Man glaubt dem Zweimeter-Mann, dass er einen Ringkampf mit einer alten Bärin siegreich übersteht. Er schwankt zwischen Unbeholfenheit in der ihm fremden Hauptstadt und krasser Großmannssucht, als wär’ er der Prinz Orlovsky: „Teschek, bedien dich!“ Und wenn er einem eins aufs Maul gibt, dann schliddert der längs über die Bühne. Der koreanische Bariton aber verkörpert nicht nur den Kraft- und Machtmenschen, sondern hinter der guten Wehr und Waffen seines Baumstammorgans einen sensibel und verletzlich Liebenden. Auch das ist virtuose Operette. Erst recht sein Leibhusar Mario Ahlborn – der perfekte Bodyguard eines Warlords aus einem der letzten Balkan-Kriege. Der Mann ist fürs Stehen seine Gage wert.
Eleonore Marguerre trägt, wie von den Autoren des Werks gewünscht, „ihren Stammbaum im Gesicht“. Sie gibt sauber und höhensicher, rank und schlank die maßlos verwöhnte Wiener höhere Tochter – wie sie sich räkelt und langweilt! Und dabei doch unbestimmt nach was ganz Besonderem sehnt. Wie sie vom kleinen Bruder (alias kleine Schwester, halt vom ‚Zdenkerl‘) Ashley Thouret die Stiefel ausziehen lässt! Wie wunderbar sie die Verehrer anmacht und hinhält ... derart als kesses faules Früchtchen einer dekadenten Gesellschaft zu funktionieren, will gelernt sein. Die beiden jungen Waldners stehen sich stimmlich in nichts nach – und erst recht nicht in Schwesternliebe. Die erfährt im dritten Aufzug einen wahrhaft psychisch abgründigen und musikalisch rauschenden, schwellenden, eskalierenden Exzess. Die herausragenden Solisten dieser Produktion wären auch eine Zierde und ein Zugewinn z.B. für die Wiener Staatsoper, an der das Durchschnittsalter des singenden „Arabella“-Personals in der Regel zwanzig Jahre höher liegt.
Jens-Daniel Herzog hat die sich auf die Ära Johann Strauß kaprizierende Milieustudie als Konversationstheater aus dem Geist von Botho Strauß aufbereitet – als Schwester der „Trilogie des Wiedersehens“ oder „Kaldewey Farce“. Nicht als Auseinandersetzung mit der doppelt abgründigen Beschönigung von Richard Strauss und Hofmannsthal. In denen ist „Ich kann ja nichts dafür“ ein Schlüsselsatz und das Frauenbild, beschönigend formuliert, von vorgestern: „Du wirst mein Gebieter sein und ich dir untertan“, himmelt Arabella den von ihr erhörten Mandryka an. Der nimmt ihr, als sie sich eine anzünden will, die Zigarette weg und wirft sie beiseite. Später, als er belehrt wurde, dass er sie nicht ganz in einen goldenen Käfig wird sperren können, schenkt er ihr nicht nur aus der stets mitgeführten Sliwovitz-Flasche einen Zahnputzbecher voll ein, sondern steckt ihr auch eine Zigarette in den Mund. Die wirft sie nun in einer Geste der freiwilligen Selbstunterwerfung weg. Überhaupt sind viele Details des müßiggängerischen Lebens sehr genau getroffen. Nicht aber der Ernst der schiefen Bahnen des griffigen Lebens im gruseligen.
Herzog bietet Entertainment pur, nicht einen Deut Ein- oder Ausblick auf Tendenzen der altgolden verbrämten k&k-Zeit, die in den Weltkrieg trudelte. Schon gar nicht auf die Kontexte der „Arabella“-Uraufführung, die 1933 der von der Macht ergriffenen NS-Führung den ersten kulturpolitischen Erfolg auf internationalem Parkett bescherte und dem Komponisten Strauss den Vorsitz der Reichsmusikkammer. Selbst die Bundestagswahl, deren Stimmauszählung parallel zur Premiere lief, geriet über Arabellas leicht retardiertem Glück völlig in Vergessenheit. Jaja, glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.