Die rare, dank dem Staatstheater Braunschweig ermöglichte Begegnung mit Antonio Smaregilas dreiaktiger Oper „La Falena“ macht die Geistesverwandtschaft des Komponisten zu James Joyce, der Smareglia bewunderte, nachvollziehbar. Denn selten sonst wird in der Oper mit so viel Wortreichtum und mit einer solchen Vielfalt von Modulationen und Tonmalerei so viel Assoziatives ausgesagt, aber zugleich so wenig an Aktion transportiert – nimmt man einmal Richard Wagners „Handlung in drei Aufzügen“ aus; der „Tristan“ allerdings stand mit seiner unendlichen Melodie Pate für jenes „Theater der Poesie“, das der 1854 im heute in Istrien liegenden Pola geborene Komponist als Gegenbewegung zum Verismo entwickelt hat.
Smareglia, der ursprünglich die Ingenieurslaufbahn eingeschlagen hatte, studierte aufgrund seiner Begeisterung für Richard Wagner bei Franco Faccio Komposition. In einer Reihe von Opern – zunächst auf Libretti von Luigi Illica, dann auf symbolistisch-dekadente Dichtungen von Silvio Benco – entwickelte Smareglia seinen spezifischen lyrischen Musikstil deutsch-italo-slawischer Prägung. In den Handlungen seiner Bühnenwerke bevorzugt der Komponist die Konstellation eines Mannes zwischen zwei Frauen, so auch in „La Falena“.
Dabei orientiert sich Bencos Libretto dramaturgisch am Gegensatz von Venus und Elisabeth: der reinen Albina steht die liebeshungrige Nachtgestalt der Falena gegenüber, die den Männern im Schlaf Samen und Lebenskraft raubt, also ein klassischer Succubus. Die Falena mit ihren künstlichen (Insel-)Paradiesen nächtlich-feuchter Träume ist dabei ein Pedant zu Wagners Liebesgöttin, insbesondere der Leidenden in der späten Wiener Fassung.
Wie Tannhäuser ist König Stellio zwischen Agape und Sexus her- und hingerissen und muss sich obendrein im Auftrag der Falena die Hände mit Mord an Uberto, dem Vater seiner Geliebten beflecken. Die ewig traurige, ihr unerfreuliches Ende vorausahnende Albina opfert sich schließlich, wie Senta oder auch Elisabeth, für den Geliebten, um ihn von seiner Schuld zu erlösen.
In der Braunschweiger Inszenierung kommt diese Hilfe für Stellio (wie für den Tannhäuser Heinrich Heines) allerdings zu spät: er kehrt zurück vor den Hauptvorhang, abhängig geworden von seinem Succubus-Objekt. Vor dem Hauptvorhang hatte im turbulent symphonischen Vorspiel die szenische Darstellung bereits begonnen: König Stellio, von Anfang an mit blutbefleckten Händen, begegnet dem Wilddieb Ladro (Michael Ha) als einem Alter Ego. In der nachfolgenden Eröffnungsszene auf der Bühne erheben sich die uniform weiß gewandeten Damen des Chores wie die toten Nonnen in „Robert der Teufel“ aus ihren Gräbern und schenken ihre weißen Lilien der am Weltschmerz leidenden Albina (Ekaterina Kudryavtseva). Nach dem Mord an Uberto (Orhan Yildiz), der im Mittelakt den König aus den Fängen der Dämonin zu befreien versucht, nimmt im dritten Akt der Fischer Morio (eindrucksstark der Bassist Selçuk Hakan Tiraşoğlu) die Funktion des strafenden und zurechtweisenden Ersatzvaters für Stellio ein; dass dieser Fischer den König wiederholt ohrfeigt, erscheint allerdings als fragwürdige Zutat. Jedoch sind Fischer und Volk, in Anzügen mit Hüten als Zeitgenossen des Komponisten kostümiert, in ihrer Handlungsfunktion schwer einzuordnen. Wie im Venusberg die drei Grazien, so sind in der Braunschweiger Produktion Falena fünf Damen zugeordnet, die auch mal gemeinsam „Ach“ stöhnen. Mit ihren roten Schleiern fesseln diese Huren des frühen 20. Jahrhunderts den König in Kreuzform, so wie er bereits am Ende des ersten Aktes von seinem Volk als einen von seinem inneren Zwiespalt Gekreuzigter emporgehoben worden war.
Regisseur Michael Schulz, der in Weimar eine beachtliche „Ring“-Deutung und in Salzburg einen immerhin eigenwilligen „Parsifal“ inszeniert hat, kapitulierte leider vor Smareglias und Bencos ungewöhnlicher Spielvorlage. Falena, die wie die rächende Undine in E.T.A. Hoffmanns Oper aus einem Brunnen herauffährt, bleibt trotz behutsamer Anspielungen einer lesbischen Beziehung zu Albina und im Vorspiel zum dritten Akt als eine mit Stellio und Albina gemeinsam im Brunnen versinkende Dreierbeziehung ungelöst. Das Hin- und Herverteilen der Lilien im ersten Akt ist ebenso peinlich, wie die Flucht in die Persiflage im Dritten, wenn Albina, kostümlich zur Madonna dolorosa hochstilisiert, ein kitschiges, übergroßes Herzkissen mit sich führt, in das die Frauen Dolche wie Fonduegabeln ins Weißbrot stecken.
Insgesamt herrschen im unpoetisch massiven Einheitsraum (von Kathrin-Susann Brose), der im Mittelakt um Spiegelwände ergänzt wird, szenische Reduktion und Formalismus, inklusive dem wiederholt eingesetzten Mittel der massiven, zentralen Blendung des Publikums. Die Handlung der Oper vermittelt sich zumeist stärker über den Wortlaut des Librettos (Projektion der deutschen Übertitel: Christoph Dammann) als über Aktionen auf der Bühne.
Wenn eine Opernhandlung des Fin de Siécle nach Körperlichkeit und Nacktheit zu verlangen scheint, dann die des 1929 verstorbenen Komponisten. Die im Programmheft abgedruckten Beispiele aus der bildenden Kunst stehen allerdings in argem Gegensatz zu Renée Listerdals unsinnlichen Kostümen; gerade das dem berühmten Gemälde „Die Sünde“ von Franz von Stuck nachempfundene, stark dekolletierte Kleid der Titelfigur macht diese Diskrepanz überdeutlich: leider nichts von der Braunschweiger Ankündigung einer „höllische[n] Kreatur in Gestalt eines wunderschönen Nachtfalters“.
Dass die Rekonstruktion der 1897 in Venedig uraufgeführten, verschollen geglaubten Oper Smareglias anhand „der letzten noch vorhandenen Partitur“ (so die Braunschweiger Ankündigung) sich doch lohnt, liegt an der intensiv sinnlichen, satt farbigen, italienische Kantabilität mit Wagnerscher Orchesterpsychologie und -Polyphonie mischenden Tonsprache. Toscanini, der bekanntlich gleichermaßen Wagner, Verdi und dessen Nachfolgern zugetan war, hat diesen Kompositionsstil geliebt. Dass er Samareglias Vorspiele gern in Konzerten interpretiert hat, manifestiert zugleich deren kompositorische Qualität wie deren szenische Mängel. „La Falena“ bedürfte eines rigorosen regielichen Zugriffs und der szenischen Fantasie eines Calixto Bieito oder Hans Neuenfels.
Im Gegensatz zu dem von Georg Menskes einstudierten, sehr homogenen Chor des Staatstheaters, hatte das Staatsorchester Braunschweig bei der Premiere keinen so guten Abend, Hornpatzer und Streicherintonation verdarben mehr als einmal den vollen Genuss. Gleichwohl bringt Florian Ludwig die Besonderheiten der Partitur, die Schichtung von tonmalerisch flirrender Bewegung bis hin zu bizarr grotesker und geradezu hypnotischer Reizentfaltung, nuancenreich zum Ausdruck und schafft dabei auch den erforderlichen großen Bogen.
Stimmlich gefällt das dramatische Organ von Nadja Stefanoff in der Titelpartie und die souveräne, allerdings ein letztes Strahlen vermissen lassende Tenor-Leistung von Arthur Shen als Stellio.
Am Ende der zweieinhalbstündigen Premiere gab es dankbaren Applaus und einige Bravorufe fürs Orchester.
- Weitere Aufführungen: 20. April, 7., 22., 31. Mai, 23. Juni 2016.