Die vier männlichen Komödianten der Truppe um die schöne Zerbinetta legen lange schwarze Gummi-Phallusse an, die sie zur Verzweiflung des Komponisten („In mein Heiligtum hinein ihre Bocksprünge! Ach!“) rhythmisch schwingen lassen. Im verklingenden Vorspiel tritt Ariadne in die Mitte der Bühne. Aber nicht, wie sonst üblich, beginnt umgehend der Opern-Akt. Stattdessen lässt Stückezertrümmerer und Bühnenprovokateur Hans Neuenfels im Hintergrund Kultur-Felsbrocken herabpoltern, und – nach nur 45 Minuten – gibt es eine ausgiebige Opernpause.
Am Ende wurde die Premiere von Strauss’ „Ariadne auf Naxos“ als Musiktheatercoup, musikalisch auf höchstem Niveau und szenisch trefflich ausgearbeitet, einhellig gefeiert.
Neuenfels nutzt die dramaturgische Idee des Dichters Hugo von Hofmannsthal, Tragödie und Komödie ineinander zu verschachteln, als ein Theaterexperiment mit Bezug zum klassischen Griechenland. In einem weißen Bühnenkasten (Katrin Lea Tag) setzt er mit diversen Versatzteilen und Zwischenvorhängen in seiner kritischen Lesart rasche Szenenschnitte. Der Fokus des szenischen Vorspiels liegt zunächst auf der Hosenrolle des Komponisten, dessen Partie Neuenfels auch in der Opernhandlung stumm weiterführt. Der Komponist legt ein schwarzes Wollknäuel vor die auf einer Recamiere schlummernde Ariadne. Mit diesen (Ariadne-)Fäden wird sie von drei Sanatoriums-Krankenpflegerinnen, als die hier das Trio von Najade, Dryade und Echo erscheint, festgebunden. Ariadnes Monolog wird partiell zu einem Dialog mit dem Komponisten, mit dem sie sogar das Tanzbein schwingt.
Den zumeist überlesenen Satz des Komponisten über seine Ariadne, „Nein! sie stirbt wirklich“, nimmt der Regisseur wörtlich: Eine katholisch-dionysische Prozession von Priestern und Böcken trägt als Heiligtum unter dem Baldachin eine Statue des Götterboten Hermes herbei und überlässt diese der Ariadne. Ihr entnimmt Ariadne Hermes’ Stab, um sich damit zu erdolchen. Bacchus, dessen Göttlichkeit in Frage gestellt und auf die Vorspiel-Rolle des Tenors reduziert wird, hat sie zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen und singt den Schlusspart des Duetts sichtbar aus dem Orchestergraben. Dann schmiegt sich der Komponist an Leiche seiner toten Protagonistin.
Die Beziehung Eros-Thanatos ist bei Strauss keineswegs ungewöhnlich, und auch andere leidenschaftlich liebende Heroinen sterben am Ende seiner frühen Opern. Musikalisch scheint die Partitur einem solchen Ende trotz Hymnus nicht zu widersprechen. Die Autoren wünschten sich, dass die Bühne am Ende der überhöhten Opernhandlung geradezu verschwinden würde. Der für die Neuinszenierung gewählte Schluss bedingt hingegen eine finale Dominanz der Tragödie. Vordem jedoch ist Vieles an bestens inszenierter Komödie zu erleben.
Harlekin (Gyula Orendt) singt sein „Lieben, Hassen, Hoffen, Zagen“ mit und in einer Harfe. Gemeinsam mit seinen komödiantischen Kollegen (Stephen Chambers, Grigory Shkarupa, Jonathan Winell) exerziert er virtuos eine pantomimisch ausgespielte Soldaten-Nummer. Die uniforme, graue Kleidung der Komödianten gemahnt an Brecht-Weills Zeitstücke (Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer) und schafft hier obendrein den Bezug zur Entstehungszeit des Ringens von Strauss und Hofmannsthal um die endgültige Fassung der vordem sehr viel umfangreicheren Bemühung um eine innovative Mixtur von Schauspiel und Oper.
In Zerbinettas großer Arie werden auf den Bühnenseiten zwei Tafel-Wände hereingeklappt, auf denen die Protagonistinnen ihre unterschiedlichen Statements zur Liebe mit dem anderen Geschlecht definieren. Der gleichermaßen hinreißend singenden, wie aussehenden und spielenden Brenda Rae als Zerbinetta im roten Kleid gelingt es, während ihrer makellos intonierten Arie einen anderen Text niederzuschreiben. Ihre Koloraturketten generiert sie als Nerven-Kiste, da Ariadne partout nicht auf ihre Überredungskünste reagiert. (Umso mehr jedoch das Publikum, das nach ihrer Arie in Ovationen ausbricht.)
Camilla Nylund bietet eine glasklare, textverständliche Ariadne, Roberto Saccá meistert die extrem schwierige Lage dieser Tenorpartie des Bacchus mit Bravour. Die drei Krankenschwestern (Evelin Novak, Annika Schlicht, Sónia Grané) kleiden den Tenor, der Ariadne aus einem Raubtierkäfig naht, mit goldener Tiermaske und Brustpanzer. Eine großartige Leistung bietet Roman Trekel als Musiklehrer, der dieser Partie ganz neue Facetten entlockt, indem er ein Alter Ego des Regisseurs darstellt. Hinreißend in stimmlicher Gestaltung und überzeugend in ihrem Spiel ist Marina Prudenskaya in der Hosenrolle des Komponisten. Ebenfalls eine Hosenrolle, mit großer Wahrscheinlichkeit zum ersten Mal in der Aufführungsgeschichte dieser Oper, ist hier der Haushofmeister – denn ganz ohne Elisabeth Trissenaar, die Gattin von Hans Neuenfels, geht es auch diesmal nicht: sie spielt diese Sprechrolle chaplinesk und ganz unprätentiös, fügt sich großartig ein in die erstklassige Damenriege dieser Produktion. Neu in der bis in die kleinsten Partien von Lakai (Arttu Kataja), Tanzmeister (Florian Hoffmann), Perückenmacher (Maximilian Krummen) und Offizier (Patrick Vogel) rollendeckend besetzten Personage dieser Oper ist ein Puppenspieler, den ein T-Shirt-Aufdruck in griechischen Buchstaben als „hä Tyche“ und auf dem Rücken deutsch banalisierend als „Schicksal“ ausweist. Der Puppenspieler Jarnoth interagiert mit Ariadne; die Köpfe von Mann und Frau, gegen Ende aus der Schädeldecke blutend, überlässt er Ariadne in ihrer einsamen Quarantäne als Spielrequisiten.
Mit der trefflich disponierten Staatskapelle Berlin arbeitet Dirigent Ingo Metzmacher Motive mit Witz und Akribie heraus. Schon das Vorspiel wird zum Erlebnis. Metzmachers Lesart setzt auf eine Durchdringung der antagonistischen Ebenen. So macht er etwa deutlich, wie viel Ideengut von Zerbinetta auch in den Gedanken Ariadnes schlummert und ziseliert die orchestrale Einleitung zum Opernakt als Invention über Zerbinettas Gefühlswelt. Die kammermusikalische Struktur dieser Partitur in ihrer zweiten Fassung scheint beim martialisch schlagenden Rhythmus der Erinnerung an Theseus, wenn Ariadne Bacchus für ihren verflossenen Geliebten hält, geradezu zu bersten.
Der Premierenabend, mit zahlreichen originellen Details und ungewöhnlichem Ende, stieß auf ein überaus dankbares, alle Mitwirkenden enthusiastisch feierndes Publikum, das sich allerdings in seiner Zusammensetzung vom üblichen Premierenpublikum der Staatsoper im Schiller-Theater unterschied.
- Weitere Aufführungen: 20., 22., 25., 27. Juni 2015.