Wie könnten Gravitationswellen klingen? Wo liegen die Schnittstellen von Kunst, Wissenschaft und Forschung? Was ist künstlerische Forschung? Woran forschen Komponisten heute? Eine gelungene Symbiose von ästhetischer Praxis und Reflexion bot das Musik 21 Festival „√Musik = Energie²“ vom 8.–11. November. In der Kooperation von Musik 21 Niedersachsen mit der Universität Hildesheim waren Konzerte, Installationen, Vorträge und Podiumsdiskussionen in Hildesheim und Alfeld zu erleben.
Die digitale Uhr läuft. Eine Stunde, 33 Minuten und 54, 55, 56 … Sekunden sind vergangen. Jemand gießt Rosen, schaltet dann das Radio ein. Eine junge Frau trinkt Cognac, nimmt anschließend ein Stück Stoff und poliert den Flügel. Zwei Minuten lang bleibt ein junger Mann im Kopfstand, geht dann in die sitzende Meditationshaltung zurück, während ein anderer sich auf einem Stuhl die Schuhe aufbindet: „I can take off my shoes.“ Die Uhr läuft. Der Raum ist in ein warmes rotes Licht getaucht. Im ehemaligen Pferdestall an der Domäne Marienburg dürfen die Zuschauer auf Sofas und Fellteppichen Platz nehmen. Die dreistündige Dauerperformance „bestimmt unbestimmt“ nach Texten und Aktionsanweisungen von John Cage ist sinnlich – und ja, man darf das hier sagen: unterhaltsam. Aufgeführt von Studierenden der kulturwissenschaftlichen Studiengänge der Uni Hildesheim (Leitung: Prof. Dr. Matthias Rebstock) ist diese performative Installation ein Beispiel dafür, wie ein „Neue-Musik“-Festival den gängigen Klischees durch seine Programmgestaltung entgegenwirkt: Das kompositorische „Experiment“ in allen Facetten durchzog die drei Festivaltage in Hildesheim.
Einen Einblick ins Labor zweier Komponisten ermöglichte das Podiumsgespräch mit Nadir Vassena und Oliver Schneller vor dem Konzert im Römer-und Pelizaeus-Museum Hildesheim. Dass die Ergebnisse ungewiss sind, liegt in der Natur experimenteller Forschung. Nadir Vassenas Versuche mit dem „Objekt Konzert“ ermöglichte den Aufführenden neue Erfahrungen: In „Coreografie incerte“ spielten die Musiker des „Ensemble Laboratorium“ mit weißen Masken. Auch fürs Publikum ermöglichten sich so neue Rezeptionsweisen: Die Aufführung versteckt jede Form von Emotionalität der ausführenden Musiker und macht sie zu einer Carte Blanche für die Zuschauer.
„Wen man etwas finden will, dann muss man suchen“. Auf diese einfache Formel gebracht erklärte Stephan Meier, künstlerischer Leiter von Musik 21 Niedersachsen, den Kindern und Jugendlichen beim Nachwuchskonzert, warum Komposition Forschungsarbeit ist. Doch hinter den Fassaden steckten ganz unterschiedliche Experimente: Während die einen versuchten, neue Zusammenhänge zu schaffen, Erfahrungen zu ermöglichen oder bisher unentdeckte Klänge zu suchen, erwiesen sich andere „Experimente“ beim Festival eher als Museumsraum für konserviertes Archivmaterial. Cages „30 Pieces for String Quartet“ von 1983 wurden aus der Kommode gekramt und dem Festivalpublikum präsentiert. Gegen die interaktive Cage-Raum-Performance kam diese Aufführung pädagogisch und fahl daher. Das Nomos Quartett, in den vier Ecken des atmosphärisch kalten Burgtheaters platziert, wirkte – obwohl es musikalisch sehr präzise agierte – etwas verloren. Nicht jeder Versuch hat andauernden Mehrwert: Cages unabhängig voneinander spielende Streichinstrument-Stimmen können trotz Öffnung des musikalischen Raums heute nicht mehr überzeugen.
Der „Tag der Klänge“ beim Festival war eine Möglichkeit, sich sowohl den inzwischen historischen Experimenten von Varèse, Cage, Xenakis oder Stockhausen – präsentiert von Studierenden der Musikhochschule Hannover – zu nähern als auch eigene Installationen und Klangobjekte von Studierenden der Uni Hildesheim zu entdecken: Nicolas Schneider entwickelte eine akustische Ritterrüstung und auch Matthias Meyers Erfindung zeigt die Vielfalt der Klangexperimente: Bei seiner „Self Excitation C-A-G-E Organ“ lösten vier mit Mikrofonen und Verstärkern versehene Orgelpfeifen Rückkopplungen aus.
Mit dem Verhältnis von Kunst, Wissenschaft und Forschung beschäftigten sich die Vorträge des angegliederten Symposiums „Komposition und Forschung“ unter der Leitung von Prof. Dr. Matthias Rebstock und Dr. des. Alan Fabian. In Vorträgen von Prof. Johannes Goebel (USA), Julian Klein (Institut für Künstlerische Forschung, Berlin), Prof. Alex Arteaga (UdK Berlin), Prof. Oliver Schneller (Musikhochschule Hannover), Prof. Nick Till (Sussex) und anderen war der direkte Praxisbezug gegeben: Die Künstler und Wissenschaftler sehen sich größtenteils an der Schnittstelle von ästhetischer Praxis und Forschung. Dass künstlerische Praxis die Theorie befruchten kann, zeigte eindrücklich die Sound- und Gestures-Performance „An die verehrte Körperschaft“ von Leo Hofmann, Masterstudent im Studiengang „Théâtre Musical“ an der Hochschule der Künste Bern. „Ich suche nach Grenzen und Übergängen von Formaten“, formuliert er seine künstlerische Forschung. In seiner Hörspiel-Performance steuert er auf einem Computer gespeichertes Klangmaterial über Druck- und Bewegungssensoren an seinem linken Arm und erweitert den Ausdruck durch Gesten. Was dabei herauskommt, ist keine Illustration des Klangs, sondern ein ästhetisches Wechselspiel von akustischer und leiblich performativer Präsenz.
Marco Stroppa, Kompositionsprofessor an der Musikhochschule Stuttgart, ist ein Forscher musikalischer Performanz. Für das beim Festival aufgeführte Trio „Ossia, Seven Strophes for a Literary Drone“ (2005) verwendet er Textstrophen des russischen Dichters Joseph Brodsky. In der Aufführung lässt er Violine und Violoncello jede Strophe in einer anderen Raumposition spielen. Dabei entstehen unterschiedliche performative Räume, vom sensiblen Flageolett-Monolog des Cellos hinter dem Flügel bis hin zum aggressiven Klangstreit der drei Instrumente. Ein Netz aus Klangfäden spannt sich so nach und nach im Raum aus und lässt diesen sich dehnen und krümmen.
Dem Nachwuchsbereich und der Präsentation ihrer Arbeit räumte Musik 21 Niedersachsen ein eigenes Konzert im Festival ein. Am Sonntagmorgen traten drei ganz unterschiedlich arbeitende Ensembles im Leester-Saal der Musikschule Hildesheim auf: Das Jugendorchester der Musikschule Lüneburg spielte die Uraufführung von Dieter Macks „Karya V“, das „Ensemble baUsTeLLe“ gab eine Papierorchester-Performance und Aufführende der Kinder- und Jugend-Kompositionsklasse L‘ART POUR L‘ART präsentierten eigene Stücke. Besondere Erwähnung verdient Lea Mummerts Komposition, die Aktionen, wie Flaschen aufhängen, einen Stuhl an einem Gummiband heranziehen und ein Streit im Publikum in das scheinbar harmlos süßliche Geklimper einer Klaviermelodie mit einbezieht.
Beim Konzert im UNESCO-Weltkulturerbe St. Michaelis war es wohl vor allem die Aufführung von Stockhausens „Kontakte“, die das Publikum so zahlreich erschienen ließ. Die inzwischen historische Verknüpfung von elektronisch erzeugten und instrumentalen Klängen – brillant aufgeführt durch Sebastian Berweck (Klavier), Stephan Meier (Schlagzeug), Joachim Heintz (Elektronik) – wirkt noch nach fünfzig Jahren lebendig. Doch auch neuere Entdeckungen konnte man in diesem Konzert machen: Aaron Einbonds „Post-Paleontology“ fand beeindruckende Instrumental-Klänge zur Sonifizierung von Fossilien, die sich im Kirchenraum manifestierten. Mark Andrés geistliches Stück „...als...“ erwies sich für den enormen Bau der Kirche leider als zu transzendent, sodass einiges an Dichte und Grenzauslotung zwischen Atmen und Stille verloren ging.