Das Theater Kiel hat schon eine Reihe von beachtenswerten Musical-Produktionen erarbeitet. Jetzt präsentierte es George Gershwins „Ein Amerikaner in Paris“ in einer Bühnenversion, die etliche Gesangsnummern und Instrumentales aus seinen Werken nutzt, darunter, quasi als Ouvertüre nur, das 1928 komponierte, titelgebende „Tone poem for orchestra". Ende 2014 bereits war das Werk im Pariser „Théâtre du Châtelet“ uraufgeführt worden und nach Broadway und Londoner West End jetzt in Kiel im gleichen Arrangement als „Deutsche Erstaufführung“ zu erleben (Premiere: 28. September 2019). Arndt Voß klärt auf.
Als Vorlage diente der 1951 mit sechs Oscars prämierte Musik- und Tanzfilm von Vincente Minnelli, in dem u. a. der unvergessene Gene Kelly, die damals erst 19-jährige Leslie Caron und der amerikanische Komponist, Konzertpianist und Schauspieler Oscar Levant mitwirkten. Dass Craig Lucas, der das Musicalbuch verfasste, einige andere Akzente setzte, ist den Zeitumständen geschuldet, vor allem der größeren Distanz zum Kriegsgeschehen und heute eine Reminiszenz wert.
Historisches
Nicht nur die riesigen Fotoeinblendungen auf der Rückwand verorten das Geschehen, auch das Jahr 1945 wird bereits auf dem noch geschlossenen Vorhang durch eine Tafel mit französischen Plakaten heraufbeschworen. Es ist die Zeit nach dem Krieg, der das Schicksal vieler verändert hatte. General de Gaulle ist zu erkennen, auch der Kriegsfilm „Les Sacrifiés“ mit Robert Montgomery und John Wayne. Sein originaler Titel ist „They Were Expendable [entbehrlich]“, sein deutscher „Schnellboote vor Bataan“. Hebt sich der Vorhang, sieht man auf nackter Bühne einen einsamen Klavierspieler, der auf seinem abgewrackten Instrument an einer Bühnenkomposition arbeitet. Er erklärt ihre Handlung als eine, in der sich Realität und Fiktion, Gegenwärtiges und Vergangenes mischt. Es ist zudem ein Stück, indem er, Adam Hochberg, selbst eine Rolle spielt.
Der Komponist, der als Bar- und Begleitpianist für eine Ballettcompagnie sein Geld verdient, nennt seinen Helden Jerry Mulligan und gibt ihm eine Vergangenheit als Lieutenant der US Army. Dieser Jerry nun zieht es vor, als Maler in Paris, in der Stadt der Kunst, zu bleiben, nicht in die USA zurückzukehren. Das öffnet der Bühnenhandlung den Weg, dass beide an dem gleichen Musikprojekt arbeiten, der eine als Komponist, der andere als Ausstatter. Klar, dass das Sujet auch den anderen Nimbus von Paris bedient, den der Stadt der Liebe. Ohne dieses Hochgefühl funktioniert nun einmal musikalisches Theater nicht. So darf Jerry zufällig einer zunächst Unbekannten begegnen, in die er sich verliebt. Im weiteren Geschehen wird klar, dass Lise, auch Liza genannt, Tänzerin ist, just in dem Theater, in dem Adam die Musik in den Proben spielt. Und da wird klar, dass auch er sie heimlich liebt und ihr die Hauptrolle auf den Leib schreibt. Damit nicht genug wird noch ein Dritter im Bunde der Bewunderer von Lise eingefügt. Es ist Henri Baurel, zudem noch Freund von Adam und heimlich ein Cabaretsänger, wovon seine schwerreiche Familie nichts wissen darf. Sein Verhältnis zu Lise ist ein höchst sensibles – und wird leider in Kiel nicht genug herausgearbeitet.
Hintergründiges
Das hatte seinen Grund in einem sehr hohen Tempo, das die Inszenierung vorlegte, das auch in den vielen, mitreißenden Tanzszenen Sinn ergab. Weniger wirkungsvoll war es bei den oft beiläufig bedienten Sprechtexten, die die Handlung vorantreiben, vor allem störend bei der wie nebenbei präsentierten Erzählung von Lises Herkunft. Sie sei deshalb kurz nachgezeichnet, weil sie dem Geschehen in vieler Hinsicht Tiefe gibt. Lise ist Tochter eines jüdischen Butlers in Henris Elternhaus. Beide, Mutter und Vater, werden von den Nazis arretiert, währende Lise entkommen kann und in der Familie von Henri Baurel Schutz findet. Henri selbst schließt sich der Résistance an. Wichtig wird das für die Charakterzeichnung fast aller, auch der der Mutter Henris und der einer dritten Frauenfigur. Es ist Milo Davenport, eine Kunstmäzenin, die Jerry fördert und liebt.
So bedient das Musical eigentlich beides, die überbordende Lebensfreude und auch den Ernst, der die Entscheidungen der Personen leitet. Das aber konnte die Inszenierung nicht ausbalancieren. Zum einen waren die Sprechtexte im Tempo vor allem bei den Herren zu leicht genommen, zum anderen war die Musik insgesamt zu vordergründig. Abgesehen von der Lautstärke, die das relativ kleine Kieler Opernhaus sprengte, hätte man sich für Gershwins Musik mehr Sentiment gewünscht. Daniel Carlberg erreichte mit den Musikern aus dem Philharmonischen Orchester zwar einen flotten Sound, der zu den Tanzszenen wunderbar passte, aber der Differenzierung wenig diente.
Tolle Rollen
Die weiblichen Rollen stachen hervor. Vor allem Lynsey Reid hatte als Lise feine Zwischentöne. Milo, der Anwältin für Optimismus, gab Léonie Thoms Salfeld eine glaubhafte Natur. Mit dem gestrengen, dann doch vom Sohn überzeugten Charakter der Madame Baurel war Alice Wittmer betraut. Die drei männlichen Rollen überzeugten in Tanz und Spiel, weniger im Textgestalten. Peter Lesiak war der kraftvolle, jugendliche Jerry, glücklich dem Krieg entkommen und überbordend in seiner Vitalität. Sascha Stead als Henri und vor allem Hermann Bedke als auch körperlich kriegsverehrter Adam hatten ihren Figuren nachdenklichere Töne beizumischen.
In den schnell beweglichen Kulissen an den Schnürzügen ließ sich szenisch das Tempo eindrucksvoll durchhalten, auch der Handlung geschickt anpassen. So entstand ein bildhaftes, zugleich ansprechendes Theatererlebnis, von dem das Publikum sich begeistert zeigte. Es applaudierte von Beginn an jeder der Gesangs- und Tanznummern.