Letztmals findet in diesem Jahr das von Jürgen Flimm initiierte Berliner Festival für Neues Musiktheater „INFEKTION!“ statt. Es brachte die Berliner Erstaufführung einer als Koproduktion mit der Münchener Biennale entstandenen, am 3. Juni 2018 dort uraufgeführten Produktion in der Inszenierung des Autors Davide Carnevali.
In rascher Folge brachten die Deutsche Oper Berlin und die Staatsoper Koproduktionen mit der von Hans-Werner Henze initiierten und von Peter Ruzicka trefflich weiter entwickelten, nunmehr von Manos Tsangaris und Daniel Ott verantworteten Münchener Biennale zur Berliner Erstaufführung. Während die Deutsche Oper mit Yasutaki Inamoris „Wir aus Glas“ den täglich repetierten Alltagsablauf von fünf Menschen musikalisch mehr karikiert als dechiffriert, beschreitet die neue Produktion der Staatsoper mit Davide Carnevalis und Franco Bridarollis mit „Ein Porträt des Künstlers als Toter“ einen diametral entgegengesetzten Weg.
Die 30.000 Verschwundenen während der argentinischen Militärdiktatur von 1976-1983, die „Desaparceidos“, werden zum Ausgangspunkt einer schwer nacherzählbaren Kriminalgeschichte. Das Monodram dreht sich um die Hintergründe der unerwarteten Erbschaft eines Appartements in Argentinien. Schauspieler Daniele Pintaudi belegt dies dem Publikum anhand angeblicher offizieller Schriftstücke und Fotos scheinbar als seine eigene Geschichte. Doch wird die lineare Erzählweise des trefflichen Alleinunterhalters immer wieder gebrochen und infrage gestellt wird. Das gipfelt im behaupteten Tod des Librettisten und Regisseurs Davide Carnavali, und kurz vor Ende in der Ansprache der Regieassistentin Anna Crespo Palomar, was Alles gegenüber der Textvorlage in der szenischen Arbeit verändert wurde, sei es aus Gründen der besseren Wirkung oder der glaubhafteren Verortung, bis hin zu einer geänderten Automarke. Der behauptete, vom italienisch-schweizerischen Darsteller Pintaudi hermeneutisch rekonstruierte verschwundene Künstler erklingt dann in einer Behauptung von dessen wiedergefundenen, expressionistisch orientierten Kompositionen für präpariertes Klavier. Die mit der Fiktion eines Personalstils des verschwundenen und/oder toten Komponisten von Franco Bridarolli entwickelten Klavierwerke vermag der Schauspieler pianistisch selbst beachtlich umzusetzen.
Die Aufführung beginnt bereits im Foyer der neuen Werkstatt, wo anstelle einer Einführung der Darsteller die seinerseits scheinbar autobiografisch vor Ort, in Berlin-Schöneberg, verordnete Geschichte mit Dokumenten belegt. Dann wird der Zuschauer in die Werkstatt eingelassen, wo – als eine weitere Wendung der Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt – an einem Modell das als Erbe anstehende Appartement vor Augen geführt wird (Ausstattung: Charlotte Pistorius). Schließlich darf der Zuschauer dieses dann im 1:1-Maßstab erleben und gegen Ende der Geschichte sogar als Museumsbesucher selbst betreten. Das Programmheft zitiert einen Spruch von Andrew Graham-Yooll: „Nur wenn jemand das alles als Fiktion aufschreibt, wird es überdauern: dann wird man es glauben. Der Tagesjournalismus hat seinen Verfallstermin um 24 Uhr und die Dokumente der Ämter und Gerichte sterben in der konfusen Erinnerung der Archive.“
Formal ist das Stück der Gattung „Künstleroper“ zuzuordnen, doch ist es diesem Genre der Romantik und Moderne zugleich extrem weit entfernt: bestenfalls ein Schauspiel mit Musik, deren Intention es ist – wie es der Schauspieler bereits in seiner Einführung verlautbart – „beim ersten Hören“ bereits „vertraut“ zu klingen.
Die offenbar angestrebte Verunsicherung stellte sich beim Premierenpublikum nur partiell ein.
Die – aufgrund der räumlichen Einschränkung – extrem kleine Gruppe der Besucher nahm die im Musiktheater seltene Form des Mitwandertheaters mit Zuspruch auf.
- Weitere Aufführungen: 30. Juni, 1. , 4., 6. und 8. Juli 2018