Er war eine Ikone des Punks in der DDR. Mit bürgerlichem Namen Dieter Ehrlich wurde der Sänger und Gitarrist der 1980 gegründeten Band „Schleimkeim“ einer größeren Öffentlichkeit als Otze bekannt. Der rebellische Musiker, Anarchist, Krawallmacher, Knasti, informelle Stasi-Mitarbeiter, Drogenjunkie und Vatermörder wurde bereits 2023 mit dem Dokumentarfilm „Schleimkeim – Otze und die DDR von unten“ des Filmemachers Jan Heck porträtiert. Nun widmete ihm das junge Musiktheaterkollektiv „Dritte Degeneration Ost“ die Produktion „Oper Otze Axt“.

Oper Otze Axt / Clara Kreuzkamp, Mathias Baresel, Johanna Kalvelage, Frieda Gawenda. Foto: Jonas Weber
Ein Punkmusiker in der DDR – NOperas!-Uraufführung von „Oper Otze Axt“ am Staatstheater Darmstadt
Der Stücktitel stellt dem Künstlernamen die gewählte Musikgattung voran und hängt ihm zugleich die Tatwaffe an, mit der Otze 1999 seinen Vater erschlug und daraufhin den Rest seines Lebens in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt verbrachte. Die Uraufführung in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt erzählt die Tragödie vom Ende her. Otze beginnt als Wrack in der Zelle und durchläuft dann seine früheren Lebensstationen vor und nach dem Mauerfall bis zum Mord an seinem Vater.
Die Vorstellung beginnt staatstragend mit Absingen der DDR-Nationalhymne: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, / Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland.“ Der Feierlichkeit des kleinen fünfköpfigen Chors folgt prompt eine rotzige Gröl-Parodie durch Matthias Baresel, der fortan in der eindringlich gespielten Titelrolle lautstark kreischt und wütet, verzweifelt einknickt und zerbrochen wirkt, sich wie beim Entzug unter Schmerzen windet und in höchstem Falsett fistelt. An den besten Stellen traktiert Baresel wie außer Rand und Band E-Gitarre und Drumset, so dass wirklich der Punk abgeht. Zentrales Element der vom RHO-Kollektiv gestalteten Bühne sind zwei große Käfige als Sinnbild der real existierenden Unfreiheit im real existierenden Sozialismus: im ersten Käfig kauert Otze, im zweiten steuert die Musikerin Antonia Beeskow als Stasi-Offizierin die Live-Elektronik wie eine Abhörvorrichtung. Wie der Überwachte erscheint auch die Überwachende eingekerkert. Neben Zuspielungen von Morsepiepen, Rauschen, Drones und Noise wird auch eingeblendet, was Otze in seiner Zelle im Radio hört, darunter Fragmente einer Rede des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker. Auch Stasi-Protokolle über den Punkmusiker werden diktiert.
Von der Obrigkeit als der „reaktionärste faschistische Trend in der gegenwärtigen Populärkultur“ gebrandmarkt, war die Punk-Bewegung in der DDR geächtet. „Schleimkeim“ gehörte daher zum musikalischen Untergrund und spielte hauptsächlich in Kirchen. Otze wurde wegen „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten und Rowdytum“ inhaftiert. Um wieder freizukommen musste er ein Schuldgeständnis ablegen und versprechen, für künftige Auftritte Genehmigungen einzuholen, eine geregelte Arbeit aufzunehmen und als Stasi-Informant die Punk-Szene auszuspionieren. Im Käfig wird er von vier Gestalten umlagert, die ihn abwechselnd aufwiegeln oder besänftigen und mit Brechstangen das scheppernde Metallgestell attackieren, das ebenso als Kulisse wie als Krachinstrument dient. Wer diese Figuren sind, lassen Romy Dins und Frithjof Gawenda in ihrer Regie offen. Es könnten Otzes Band-Kollegen sein, ebenso gut aber auch Alter Egos, Dämonen, innere Stimmen, Stasi-Mitarbeiter und psychotische Wahnvorstellungen im Kopf des Inhaftierten. Im Programmheft sind die Vokalpartien aufgeführt als „Schläger“ (Georg Festl), „Tier“ (Frieda Gewnda), „Magier“ (Clara Kreuzkamp) und „Schatten“ (Johann Kalvelage).
Otze und seine Band verhöhnen die Staatsmacht, blasen und rülpsen die DDR-Hymne auf Bierflaschen und verkehren den vorordneten Arbeitssoll zu übereifrigem Biertrinken. Und das Hoch auf die Genossen wird feuchtfröhlich mit Schnaps begossen. Der Hass auf den repressiven Staat ist Otzes Lebenselixier. Doch dann kommt plötzlich die Wende. Die Wut indes bleibt. Die deutsche Wiedervereinigung wird als Hochzeit beider Staaten zelebriert, inklusive Gefangenenchor „Teure Heimat“ aus Verdis „Nabucco“ und satirischen Sprüchen: „Mit gelben Birnen und Bananen, fällt das Land von seinen Fahnen“ oder „Jetzt kacken wir in neunormierte Schüsseln, aber scheiße-finden kann man gar nix mehr“. Zwischen den Szenen gibt es längere Erzählpassagen über den 2005 an einem Herzinfarkt verstorbenen Otze und die Nachwendezeit, ohne dass sich die Berichte in sichtbarer Handlung und hörbarer Musik niederschlagen. Die Epik geht auf Kosten der Dramatik. Ein guter Regieeinfall ist dagegen die stumme Rolle von Otzes Vater (Martin Gernhardt), der wie der Geist von Hamlets totem Vater mehrmals die Bühne betritt und wortlos wieder verlässt. Der letzten Erscheinung des Vaters geht Otze schließlich nach, indem er eine in der Zimmerecke lehnende Axt mitnimmt und die Tür hinter sich schließt. Damit endet die Vorstellung.
Die Mitglieder des Theaterkollektivs „Dritte Degeneration Ost“ stammen überwiegend aus den sogenannten „neuen Bundesländern“ und wurden allesamt nach 1990 geboren. Sie möchten verstehen, warum mehr als dreißig Jahren nach der Wiedervereinigung die alten Nahtstellen zwischen Ost und West wieder aufreißen und für so viel politischen Zündstoff sorgen. Dieser Anspruch ist aktuell und ambitioniert, freilich aber nur ansatzweise einlösbar. Auch musikalisch bleibt Manches unterbelichtet. Das hinter der Bühne erhöht platzierte kleine Instrumentalensemble unter Leitung von Neil Valenta ist nur stellenweise zu hören, weil es schlicht wenig zu tun hat. Mal flirren elektronisch verstärkte Flageoletts auf und ab, mal werden Songs und Arien eher unauffällig begleitet. Die Kollektivkomposition von Mathias Baresel, Frieda Gawenda und Richard Grimm setzt mehr auf Punk-Songs, Elektronik und deklamatorisch verengten Gesang denn auf musikdramatische Verdichtung. Dramaturgisch unterstützt wurde das Team durch Julia van der Horst vom Staatstheater Darmstadt sowie durch Roland Quitt vom Fonds Experimentelles Musiktheater.
Finanziert und mitproduziert wurde das knapp eineinhalbstündige Stück durch das weithin einmalige Förderprogramm NOperas! des NRW Kultursekretariats. Einmal pro Jahr können sich hier Musiktheaterkollektive bewerben, von denen ein Projekt durch eine Fachjury zur Realisation ausgewählt wird. Ein entscheidendes Kriterium ist dabei die Aufhebung der im Opernbetrieb üblichen Arbeitsteilung von Text, Musik, Bühnenbild, Kostüme, Regie, die von den kollaborativen Teams von vorneherein kokreativ erarbeitet werden, so dass idealerweise andere Ergebnisse zustande kommen als man sie aus der vierhundert Jahre alten Gattung Oper kennt. Weitere Vorstellungen von „Oper Otze Axt“ am Staatstheater Darmstadt gibt es am 2., 9. und 13. März. Und weil sich an NOperas! zwei weitere Häuser im Bundesgebiet beteiligen, sind nach den Erfahrungen in Darmstadt zwei Weiterentwickelungen dieser Produktion am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen (Premiere 13. April) und Theater Bremen (Premiere 4. Juli) zu erleben.
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