Der Mythos von Orpheus und Eurydike lebt, ergreift auch heute noch, unter anderem in Christoph Willibald Glucks nun schon 250 Jahre alten Version mit ihrem Happy End. Die Kieler Oper hat ihr in einer intelligenten Inszenierung neues Leben eingehaucht, ließ sie überraschend tragisch ausgehen, ein Ende, das der alte Ritter Gluck vermieden hatte und das doch grandios in unsere Zeit passt.
Der Mythos steht für den Traum aller Liebenden, auch nach dem Tode eines Partners den anderen kraft der Liebe wieder lebendig machen zu können. Und er steht dafür, dass die Macht der Musik bewirken kann, die Pforten zur Unterwelt zu öffnen und den geliebten Partner zurückzugewinnen. Als Gluck in seinem „Orpheus und Eurydike“ dies Geschehen vertonte, schuf er zugleich ein Werk, das die Ausdruckswelt der Opernmusik reformierte. Nichts, was dem Fürstenlob der alten Opera seria diente, nichts aus ihrem verkrusteten Formenarsenal war geblieben. Dafür kündete sein Werk von Menschen, von ihrer Ohnmacht in der Trauer, von dem verwegenen Entschluss, mit der Totenwelt zu ringen. Und es zeigte, dass der absolute Gehorsamsanspruch der Götter mit dem menschlichen Grundverhalten gegenseitigen Zuwendens in einen unlösbaren Widerspruch geraten kann. Für all das fand Gluck in seiner Musik gültige, heute noch bewegende Töne.
Die amerikanische Tänzerin und bedeutsame Choreografin Lucinda Childs hatte in Kiel schon einmal bewiesen, dass sie ein „altes“ Werk wie Jean-Baptiste Lullys „Atys“, immerhin 350 Jahre alt, aufregend inszenieren kann. Jetzt wiederholte sie ihren Erfolg mit dem nur 100 Jahre jüngeren Musikdrama, indem sie die Handlung konsequent in unsere Welt setzte, an den Ort, an dem heute zumeist der Weg ins Jenseits oder die Unterwelt angetreten wird. Eurydike stirbt in einem Krankenhausbett. Orpheus fällt in seinen Schmerz, aus dem ihn Amor traumhaft entführt. Und dieser Hoffnungspender, göttlich zwar, aber Zeus untergeordnet, mutiert bei Lucinda Childs in eine Ärztin. Auch sie täuscht vor, mit Wissen und mit Technik den Tod überlisten zu können, gaukelt ein Happy End vor, führt Orpheus in das Totenreich, lässt ihn Eurydike gewinnen und wieder verlieren. Noch einmal stärkt Amor die Illusion, bis überraschend, doch plausibel die Inszenierung damit endet, dass am Schluss die Trugwelt versinkt und den verstörten Orpheus vor Eurydikes Kranken- und Totenbett zurücklässt. Das Herbe des alten Mythos‘ wurde bewahrt.
Orpheus durchwandert eindrucksvolle Spielräume, die der Grieche Paris Mexis schuf und die der deutsche Lichtdesigner George Tellos faszinierend ausleuchtete. Durch die Hebebühne öffnen sich sinnfällig zwei Ebenen, die Oberwelt mit kargen, weißen Wänden und übergroßen Türen, die Unterwelt mit sich wandelndem Interieur. Bereits im ersten Bild werden Zeichen gesetzt, die das Irreale bedienen. Rosen, schon fast zu banale Zeichen der Liebe, erleuchten gespenstisch die Gesichter, eine Wirkung, die etwas verpuffte, weil der Hintergrund zu hell war. Später treten aus den geöffneten Türen die Musiker des Bühnenorchesters auf und mischen sich klanglich ein. Eindringlich auch die rotglühende Unterwelt mit den seligen Geistern. Sie halten übergroße Kopfmasken. Vieles, auch die Kostüme, überzeugt, weniger die „Vereinigungsfeier“ im vierten Akt, die allzu vordergründig zum Sektempfang verkommt.
Gesungen wurde in französischer Sprache, obwohl das Knappe der früheren italienischen Fassung Pate stand, auch die Wahl eines Mezzos für den Orpheus. Zur späteren Fassung passte, dass Klarinetten eingesetzt waren und, für das damalige Paris unumgänglich, das Ballett. Kiel hat selbst eine achtbare Truppe, die hier zwar sparsam auftrat, aber für szenische Belebung sorgte. Merkwürdig allerdings, dass Lucinda Child als bedeutsame Neuerin im Bereich der Tanzkunst allenfalls bei den Höllentänzen etwas einfiel, sonst aber sehr konventionell gestaltete, zumal die Traumwelt auch Ausgefalleneres gestattet hätte.
Die musikalische Leitung hatte Rubén Dubrovsky, Sohn einer polnisch-italienischen Künstlerfamilie. Er ist ausgewiesener Spezialist für Alte Musik und wirkte auch schon beim Erfolg des „Atys“ mit. Nach anfänglichen Schwächen zeigte sich das Kieler Orchester sehr inspiriert, zumeist auch in guter Balance zur Bühne. Ein paar Tempi überraschten, das Geschwinde „J’ai perdu mon Eurydice!“ etwa. Auch schon zu Beginn des zweiten Aktes, wo Orpheus das „Non“ der Furien durch einfühlsame Musik umzustimmen hat, hatte die Georgierin Tatia Jibladze als Orpheus Mühe, im schnellen Zeitmaß den schönen Klang ihrer Stimme zu entfalten. Der Eurydike lieh Heike Wittlieb ihren warmen Sopran. Beiden gelang ein bewegendes Duett im dritten Akt. Den Amor hatte Hye Jung Lee mit ihrer soubrettenhaft klaren und schlanken Stimme übernommen. Erfreulich auch die Leistung des Kieler Chores, der nicht nur musikalisch auch im Spiel vielfach gefordert wurde.