Die jetzige Sommertournee stand wieder einmal unter einem politischen Motto: „Polen und Deutschland – gemeinsam im Herzen Europas“. Damit wurde eine Reihe fortgesetzt, in der das BJO als Träger von humanistisch Völker verbindenden Ideen fungiert. So reiste man früher schon zum Beispiel nach Israel, nach Theresienstadt, man erinnerte an den Atombombenabwurf in Hiroshima, man gedachte in den USA an die Berliner Luftbrücke. Versöhnung soll angezeigt werden, wo die Politik des letzten Jahrhunderts, nicht zuletzt die deutsche, tiefe Gräben riss.
Seit vielen Jahren verfolgt die neue musikzeitung aufmerksam die Entwicklung des Bundesjugendorchesters (BJO). Sie tut es, weil sie hier eine der Keimzellen für ein musikalisches Bewusstsein, für ein musikalisches Leben sieht, in denen mit Verantwortung und kreativer Lust gleichermaßen nach vorne gedacht wird. Denn im BJO sind viele der besten, der aufgewecktesten musikalischen Kräfte in Deutschland versammelt. Und sie kommen drei Mal im Jahr zusammen, um Erfahrung im orchestralen Zusammenspiel zu sammeln, um sich mit zeitgenössischen musikalischen Tendenzen auseinander zu setzen – sei es auf kompositorisch- schöpferischem oder auch auf interpretatorisch nachvollziehendem Gebiet. Und immer wieder darf man beobachten: die jungen Musiker (um die 17 oder 18 Jahre alt) bringen erstaunliche Energien, verblüffende Potenziale mit. Die freilich können ausgebaut werden – sie können aber auch verkümmern. Behutsamkeit und äußerstes Engagement seitens der Verantwortlichen wird immer wieder aufs neue herausgefordert. Die jetzige Sommertournee stand wieder einmal unter einem politischen Motto: „Polen und Deutschland – gemeinsam im Herzen Europas“. Damit wurde eine Reihe fortgesetzt, in der das BJO als Träger von humanistisch Völker verbindenden Ideen fungiert. So reiste man früher schon zum Beispiel nach Israel, nach Theresienstadt, man erinnerte an den Atombombenabwurf in Hiroshima, man gedachte in den USA an die Berliner Luftbrücke. Versöhnung soll angezeigt werden, wo die Politik des letzten Jahrhunderts, nicht zuletzt die deutsche, tiefe Gräben riss.Etwa 50 Kilometer südwestlich von Breslau liegt das kleine polnische Dorf Krzyzowa, das unter dem deutschen Namen Kreisau Geschichte schrieb. Denn dort formierte sich ab 1940 der sogenannte „Kreisauer Kreis“, eine demokratische Widerstandsgruppe gegen Hitler. Feldmarschall Helmuth Graf von Moltke, Sinnbild preussischer Militärmacht, hatte dort 1867 ein stattliches Landgut erworben. Sein Urgroßneffe Helmuth James von Moltke, der später das Gut übernahm, war Gegner des Militärs, vor allem Gegner von Unterdrückungsapparaten. In geheimen Treffen entwarf man Modelle eines demokratischen Deutschland für die Zeit nach Hitlers Ende. 1944 wurden die Mitglieder des Kreisauer Kreises, darunter auch von Moltke, hingerichtet. Das Gut kam dann nach 1945 in polnischen Besitz und 1990 entschloss man sich, die verfallenden Gebäude zu einer Jugendbegegnungsstätte für europäische Verständigung umzubauen.Man hat sich viel Mühe gegeben und es entstand eine ebenso großzügige wie freundliche Begegnungsstätte: idealer Ort für das Bundesjugendorchester (BJO), um zusammen mit dem Dirigenten Gerd Albrecht sein Sommerprogramm zu erarbeiten. Mit dem Programm, das Stück „Nachklang“ von Peter Ruzicka als Uraufführung, die Zweite von Brahms und das 1979/80 geschriebene Te Deum von Krzysztof Penderecki sollen Schritte zur deutsch-polnischen Verständigung getan werden: zur Aussöhnung unter der Jugend, der die gegenseitige Verbitterung fremd ist oder es wenigstens sein sollte.
So ersann die „Deutsche Stiftung Musikleben“, die die Hauptlast der Finanzierung, der Suche von Sponsoren für die Tournee, übernommen hatte, auch das diesmalige polnisch-deutsche Motto. Die Konzertreise, gemeinsam mit der Europa-Chorakademie unter Joshard Daus und den Gesangsolisten Danielle Halbwachs, Katja Pieweck, Martin Homrich und Andreas Michael Hörl begann mit einer Aufführung in der St.-Maria-Magdalena-Kirche in Breslau. Die weiteren Stationen waren Krakau, Warschau, Danzig, Posen, Berlin, Hannover und Frankfurt.
Wie stets hatte man in der angenehmen Atmosphäre von Kreisau etwa zwei Wochen Zeit, um das Programm zunächst in Gruppenproben, dann eine Woche lang mit dem Dirigenten gründlich zu erarbeiten. Dieser große Zeitraum macht sich bezahlt – nicht nur für das Orchester, sondern auch für den Dirigenten, der viel länger als üblich seine Vorstellungen erproben und verwirklichen kann. Man kann tiefer in die Musik eindringen, als dies häufig im durchrationalisierten professionellen Musikbetrieb der Fall ist. Und er trifft auf Musiker, die rundum von ihrem Tun begeistert sind, und die es im Grunde mehr zu fordern als zu fördern gilt.
In glücklichen Fällen entsteht eine lebendige, kreative Auseinandersetzung mit der Musik, eine Atmosphäre begeisterter, kaum zu bremsender Näherung an die Musik. Was hier entsteht, wird einmal dem deutschen Musikleben einen nachhaltigen Schub verleihen. Es ist eine Investition in die Zukunft, eine der glücklichsten. Die öffentliche Hand sollte sich der Verantwortung nicht entziehen, was derzeit leider geschieht. Allzu bequem verlässt man sich von staatlicher Seite auf Sponsoren, die eigentlich hilfreiche Ergänzung oder auch Überhöhung bleiben sollten.
Polen, das in der Klammer zwischen Hitler und Stalin im Zweiten Weltkrieg wohl am meisten zu leiden hatte, verdient den Akt der Erinnerung an die unzähligen Verbrechen (auf der Reise von Breslau nach Krakau besuchte das BJO auch Auschwitz), verbunden mit dem Gedanken nach vorne zu denken, in ganz besonderem Maße. Überall in Polen ist heute der Geist des Aufbruchs zu spüren: in Breslau, das erst in den letzten Jahren wieder Farbe bekam und ehemalige Pracht rekonstruiert, mehr noch vielleicht im beeindruckend schönen, quirlig lebendigen Krakau, das sich derzeit im Aufwind als eine der Kulturhauptstädte Europas 2000 befindet. Polen verliert den Charakter des weißen Flecks auf der Landkarte. Die Tournee des BJO war hierfür ein markanter Mosaikstein.
So hinterließen die Konzerte tiefe Eindrücke. Albrecht, eigentlich als strenger Orchestererzieher bekannt, ließ seine Musiker an relativ langer Leine, was Überschwang beförderte. Ruzicka hatte ein solide vielschichtig gearbeites Werk aus Bruchstücken seiner im nächsten Jahr zur Uraufführung anstehenden Celan-Oper geliefert, Brahms geriet in virtuos orchestralem Grenzgang intensiv und stürmisch und bei dem polnischen Papst gewidmeten Te Deum Pendereckis, der in Krakau zu Hause ist, spürte man, wie eng doch dieses emotional- plastische Werk mit dem Bewusstsein und den Empfindungsebenen der polnischen Nation verknüpft ist. Hier ist diese emphatisch illustrierende, gewiss auch wirkungssicher plakativ nach göttlichem Erbarmen ringende Musik daheim. Und die erneute Heimführung durch das BJO und die Europa-Chorakademie (die Sängerinnen und Sänger aus Polen, Deutschland, Lettland und Spanien versammelte) geriet faszinierend direkt und emphatisch. Die Musiker hatten sich spürbar in dieses Werk verliebt, das so unverblümt deutlich ausspricht, was sein Anliegen ist. Vielleicht wurden die Eindrücke in Kreisau, wo sich Widerstand gegen Hitler formierte, oder auch im gefrierend aufgeräumt wirkenden Auschwitz, dem Ort, dem Inbegriff tiefster menschlicher Erniedrigung sowohl auf Seiten der Opfer wie der Täter, ja sogar der Unbeteiligten (die es im Grunde nicht gibt, da jeder Mensch davon betroffen ist), von den jungen Musikern nicht in jeder Tragweite wahrgenommen (wer überhaupt kann dies?). Dennoch griffen diese Eindrücke über auf die Musik, die sich nie den Bedingungen menschlichen Daseins ganz zu entziehen vermag.
Bedrängend erfahrbar wurde, dass Musik immer dann auf Abwege gerät, wenn sie zur Dekoration erniedrigt wird. Es ist eine Erfahrung, die ganz direkt auf die Arbeit mit dem BJO zurück wirkt. Höchste Verantwortung, äußerste Anstrengung hat hier Priorität. Musik machen heißt immer und immer wieder einen neuen Menschen zu bilden. Das verlangt höchsten Einsatz, nicht zuletzt auch das Zurückdrängen von Eitelkeiten. Das ergibt eine eigenartige Konstellation, die sich kaum sonst im Musikbetrieb findet: Das Orchester mit seinen jungen Musikern ist unbedingte Hauptsache. Es ist nicht der Dirigent, es sind nicht irgendwelche Stars, es ist nicht der äußerliche Auftrag, schon gar nicht ein „Event“, letztlich ist es nicht einmal die Musik selbst, die in emphatisch großen Sternstunden der Interpretation immer im Mittelpunkt steht. Wenn man dies in seiner Tragweite einsieht, dann kann man die Chance erkennen, die letztlich die große wie auch einzige für das BJO ist. Die Begeisterung für Musik, der Enthusiasmus, die in jeder Verästelung bei den jungen Musikern spürbar sind, müssen wach gehalten werden. Stirbt das ab oder wird das auch nur ins zweite Glied gerückt, dann wird auch das BJO zumindest seiner ursprünglichen Intention nach sterben. Und damit eine der Quellen für ein lebendiges Musikleben, das im klingenden Vollzug seine Unverzichtbarkeit nachweist.
Einer, der diese Ideale immer verfochten hat, der geschäftsführende Leiter des BJO Hans Timm, scheidet nun nach dieser Arbeitsphase vom Bundesjugendorchester. Die Nachfolge kann nicht administrativ geregelt werden. Denn es gilt jemanden zu finden, der ähnlich wach im Künstlerischen ist, ähnlich unbestechlich, der ähnlich die eigene Person in den Dienst der Idee zu stellen in der Lage ist. Hans Timm hat dies immer geradlinig kantig (solche Widersprüche sind hier Pflicht!) verteidigt. „Kunst, große Kunst, ist keine Massenware und wird insofern immer nur einer Minderheit zugänglich sein. Wenn man bereit ist, sich mit ihr zu befassen, sich anzustrengen, kann man zu ihr gelangen“, schrieb er soeben in einem wunderschönen Freundesbrief des BJO.
Jeder Versuch, die Geschäfte des BJO einfach abzuwickeln, ohne Sensorium für den künstlerischen Anspruch wie für den Freiheitsanspruch der jungen Musiker – oft ein Spagat – würde zu dem führen, was das Wort Abwicklung in heutiger Geschäftssprache bedeutet: die sozial verträgliche Vernichtung. Der Deutsche Musikrat als verantwortlicher Träger des BJO ist gefordert. Auch bei der jetzigen Tournee mit der Erinnerung an die deutsch-polnische Geschichte ging es um Leben und Tod. Und man propagierte emphatisch das Leben, die Zukunft. Gleiche Emphase wäre der Suche nach Timms Nachfolger zu wünschen.